Der Retter auf der Bastion
in: Königsberger Kreiskalender 2000
So stand es in großen Lettern über einem Artikel im Küstriner Oderblatt. Gemeint war ein mutiger Feuerwehrmann, der unter Einsatz seines Lebens einen Jungen aus höchster Not gerettet hatte. Das Geschehen spielte sich kurz vor dem II. Weltkrieg ab und war damals in aller Munde.Viele Jahrzehnte sind seitdem verstrichen; da muß ich schon ein bißchen weiter ausholen. Es gab damals in Küstrin 3 Badeanstalten. Die Städtische Badeanstalt lag südlich der Warthebrücken an einem Nebenarm. Das Eintrittsgeld für Kinder betrug 6 Pfennige. Zum Vergleich: 1 Streuselschnecke kostete beim Bäcker 5 Pf., 1 Schachtel Streichhölzer beim Händler 3 Pf. Verlockend für uns war der 3m-Sprungturm. Aber dort herrschte ein strenges Regime des Bademeisters, so mieden wir sie. Die Freibadeanstalt nördlich der Warthebrücken hatte für uns Altstädter Jungen einen zu weiten Anmarschweg. Wir badeten lieber in der Oder zwischen den Buhnen am Kietzer Tor. Das Wasser war sauber. Wenn wir durstig waren, schöpften wir es an den Buhnenköpfen mit den Händen und tranken es. Alle waren wir gute Schwimmer. Ich erinnere mich, daß ich schon mit ca. 8 Jahren die Oder durchschwamm, gesichert durch eine selbst gebastelte Schwimmweste aus Binsen. In der Regel trieben wir 1 bis 1® Buhnen ab. Die Strudel an den Buhnenköpfen mieden wir. Die besten Sandbänke lagen am gegenüberliegenden Ufer. Und dort in der Nähe der damaligen Taubenstation lag auch die 3. Küstriner Badeanstalt. Das Küstriner Pionierbataillon hatte sie aus alten Pontons errichtet. Sie schwamm mit ihren Kabinen und Laufstegen auf dem Wasser und war eine Kleinausgabe der Städtischen Badeanstalt an der Warthe.
Eine Pionierübung gegenüber dem Schloß, nur etwa 25 Jahre früher
Als Badestelle beliebt war auch das Wehr an der Odervorflut. Wenn der Wasserstand so war, daß es leicht überflutet wurde, konnte man sich an den Steinen des Wehres festkrallen und wurde dann von hohen Wasserkaskaden überspült. Um die Pionierbadenanstalt soll es hier nun aber gehen: In einem strengen Winter hatte man sie ans andere Ufer geholt und zwischen den Buhnen vor dem Schloß mit Seilen gesichert. Dort war sie dann eingefroren. Das war nun der Spielplatz für uns Altstädter Jungen, konnte man sich doch in den Kabinen prima verstecken und auf den Laufstegen Greifen spielen. Wenn im Frühjahr das Eis auf der Oder aufbricht, kündigt sich das schon stundenlang vorher mit lautem Krachen und Bersten an. Auch uns war dieser Vorgang geläufig, aber beim Spielen hatten wir nicht darauf geachtet. Erst als uns die Halteseile um die Ohren pfiffen - sie waren durch den Eisdruck gerissen - merkten wir, daß wir mit der Badeanstalt abtrieben. Wir sprangen über die Eisschollen an Land, einige mußten auch mit dem eiskalten Wasser Bekanntschaft machen; aber einer schaffte es nicht mehr. Er trieb mit der Badeanstalt ab. Da half kein Schreien und Jammern, sein Leben war in höchster Gefahr. Zu seinem größten Glück strandeten die Pontons erst einmal im Weidengestrüpp vor der Bastion König kurz vor der Oderbrücke. Dort sammelten sich immer mehr Menschen an; und dann hörten wir auch das Tü-ta-tü der Feuerwehr. Jemand mußte sie alarmiert haben. Wir hatten uns schon längst verkrochen und schauten aus gesichertem Versteck dem Geschehen zu. Ein mutiger Feuerwehrmann setzte sein Leben aufs Spiel und ließ sich von der Höhe der Bastion König abseilen.
Eine der schönsten Ansichten der Stadt Küstrin, in der Mitte die Bastion König
Es gelang ihm, den Jungen zu bergen und über eiligst zusammengebundene Leitern auf dem Wall in Sicherheit zu bringen. Die Leute auf der Brücke hatten mit Bangen zugeschaut und klatschten nach dem Gelingen laut Beifall. Wer nun aber am nächsten Tag den Namen des Jungen im Oderblatt suchte, der suchte ihn vergebens. Unser Schulfreund Walter Piehl hatte kaum mit seinen Füßen sicheren Boden erreicht, da machte er sich eiligst davon, und keiner hatte ihn Gottseidank erkannt. Begünstigt wurde das Versteckspiel dadurch, daß der Sohn des Stadtkommandanten, Achim Sorsche, unser Schulkamerad war. So kannten wir alle Winkel und Schleichwege auf den Bastionen der Küstriner Festung. Daheim wartete auf uns alle eine Tracht Prügel, das war damals so üblich. So verzichteten wir darauf, in der Zeitung benannt oder gar als Helden gefeiert zu werden. Unser "Held" hat inzwischen das Zeitliche gesegnet und der Retter auf der Bastion sicher auch. Diese Geschichte soll an seine Heldentat erinnern. Wie gewagt das Unternehmen damals war, zeigte sich wenig später. Die Pionierbadenanstalt riß sich erneut los und zerschellte an den Brückenpfeilern. Küstrin hatte nur noch 2 Badeanstalten. Es folgte der II. Weltkrieg; und da hatte man andere Sorgen als den Wiederaufbau einer Badeanstalt.
Rudi Vogt
Für 50 Pfennige einen halben Tag auf dem Feld gebuckelt
Wenn ich heute meiner Enkeltochter 50 Mark Taschengeld gebe, weil ihre Klasse in den Ferien nach Südtirol fährt, dann freut sie sich natürlich. Und wer wundert sich schon noch darüber? Regelmäßig gezahltes Taschengeld an Kinder ist üblich.
Meine Gedanken aber gehen zurück in die 30er Jahre. Für 10 Pfennige bekam man beim Kaufmann ein Viertel Pfund Bonbon, z.b. grüne Ahornblätter. Aber selbst diese 10 Pfennige konnten uns unsere Eltern nicht geben, wir mussten sie uns selbst verdienen. Kinderarbeit war üblich, in der Landwirtschaft zu gewissen Zeiten sogar die Regel. Die Bauern im Kietzer-busch, u.a. Dewitz, Schmidt, Karge, Altmann und Unglaube hatten uns für bestimmte Feld- arbeiten schon fest eingeplant. Das Verziehen der Rüben war so eine Arbeit. Es durfte beim Hacken keine Fehlstelle geben; und standen zwei Rübenpflanzen dort, wo nur eine stehen sollte, gab es auch ärger. Nach zwei Stunden am Nachmittag war kurze Pause. Ein Topf Malzkaffee mit Milch und eine dicke Klappstulle mit Leberwurst oder Blutwurst entschädigten für das viele Bücken, die Blasen an den Händen und den schmerzenden Rücken.
Nach weiteren zwei Stunden wurde der Lohn ausgezahlt: Das waren 50 Pfennige für vier Stunden harte Arbeit. Dafür konnte man bei Schwerdtners am Kietzer Tor fünf Tüten Eis essen oder zweimal ins Urania-Kino gehen und sich einen Pat- und Pattachon-Film oder einen amerikanischen Western ansehen. Wen wundert es da, dass wir auch am nächsten Tag wieder fleißig bei der Arbeit waren.
Harte Knochenarbeit war das Kartoffellesen hinter der Maschine im Herbst. Schien die Herbstsonne, dann lief es ganz gut. Aber wenn es nieselte oder der Nebel über dem Bruch lag und die Feuchte in die Kleider drang, dann wurde es unerträglich. Da wollte dann selbst die fetteste Schmalzstulle nicht mehr schmecken. Fehlte der Knecht, dann mussten wir oft die gefüllten Körbe an den Wagen tragen und die schwere Last anheben und in den Wagen schütten. Das ging über unsere Kräfte. Der Modder an den Schuhen machte alles noch schwerer.
Wir durften so viele Kartoffeln mitnehmen, wie wir tragen konnten. Diese Kartoffeln waren im Familienhaushalt fest eingeplant. Da füllten wir oft kleine Säcke, die wir gar nicht bewältigen konnten. Und fielen die dann unterwegs gar von den Rädern, dann war die Verzweiflung nicht zu schildern. Es war schon dunkel geworden, die Räder drehten sich vor Modder nicht, der Heimweg war noch weit, und die Kräfte waren völlig verausgabt. Da flossen die Tränen, der Sack blieb liegen, wo er war.
Zwischendurch haben wir Veilchen gepflückt, mit einem Zwirnsfaden gebündelt und das Sträußchen für fünf Pfennige verkauft. 20 Krebse, frisch gefangen und in einer Blechbüchse mit Wasser geliefert, brachten gar eine Mark. Für Veilchen und Krebse gab es feste Kunden, die oft schon auf die Lieferung warteten. Dieses Taschengeld war dagegen ganz leicht verdient.
Rudi Vogt
Der Küstriner Kanu-Club
Gerade mal 13 Jahre war ich alt, als ich Mitglied wurde. Nun bin ich mit 77 Jahren wohl der letzte Zeitzeuge, der über dieses kleine Paradies auf der Lünette "August Wilhelm" vor dem Kietzer Tor der Küstriner Altstadt berichten kann. Mein Schwager, Schirrmeister beim Pionierbatallion in der Neustadt, mußte 1939 in den Krieg ziehen und hatte keine Verwendung mehr für sein Klepper-Faltboot. So überließ er es mir, und ich bin mit ihm immer auf den Gewässern von Oder und Warthe unterwegs gewesen, wenn ich nur ein bißchen Zeit hatte.
1943 wurde auch ich Soldat und als ich 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war die Lünette in polnischer Hand, die Festungsanlage relativ gut erhalten; aber die Gebäude des Clubs zerstört und mein Klepper-Faltboot verbrannt.
Die Lage dieses Clubs war einzigartig, rings vom Festungsgraben umgeben, der zur Oder einen verschließbaren Durchlaß hatte. Das Tor konnte so bei drohendem Hochwasser geschlossen werden. Die Festungswälle gaben Windschutz und schirmten den Außenlärm ab. Der Festungsgraben war mit der unter Naturschutz stehende Wassernuß dicht besetzt. Bis zum Durchlaß war für uns immer nur eine schmale Fahrrinne frei. Im Halbkreis des Lünetteninneren stand der große Bootsschuppen mit einer kleinen Werkstatt und das kleinere Wirtschaftsgebäude mit Küche. Gegründet wurde der Club von Herrn Luley. Er war Besitze einer kleinen Druckerei in der Predigergasse in Küstrin-Altstadt. Später übernahm der Drogist Erich Hase den Vorstand. Beide sind 1945 als Volkssturmmänner bei der Verteidigung ihrer Heimatstadt Küstrin gefallen. Dieser Artikel soll auch dazu dienen, das Andenken dieser wackeren Männer zu bewahren.
Die ca. 30 Mitglieder waren sehr gesellig. Es wurde nicht nur gemeinsam gepaddelt, es gab auch immer wieder Anlaß zum Feiern. Im Sommer lieferte Frau Schwerdtner von der bekannten Eisdiele gleich nebenan in einem anderen Festungsgemäuer spezielle Eisbomben mit besten Zutaten für den Club. Und immer wieder erfreute uns Frau Hase mit ihrer berühmten Apfeltorte mit reichlich Schlagsahne.
Selbst im Winter war der Club oft besetzt. Wenn der Festungsgraben zugefroren war, konnte man hier rings um die Lünette Schlittschuh laufen, wobei die Wälle für idealen Windschutz sorgten. Eine so wunderbare Eisfläche vor der Haustür - wer hatte das sonst? So war hier sehr reges Leben, und wir konnten dann durchaus mit dem Betrieb auf dem Neustädter Kaiserkolk konkurrieren. Im Clubgebäude konnte man sich aufwärmen und wieder war es Frau Hase, die Frau des Vorstandes, die uns dann mit heißem Tee erfreute.
Richtig reges Leben aber war hier im Sommer. Wasser, überall Wasser, man konnte jeden Tag eine andere Tour unternehmen. Um auf der Oder stromauf zu kommen, mußte man sich ganz schön anstrengen. In den Buhnenfeldern nahmen wir Anlauf und kamen dann ganz gut um die Buhnenspitzen herum. Wir hängten uns aber auch oft an die Schleppzüge und ließen uns stromauf ziehen. Einfacher ging es stromab. Hatte man die Warthemündung erreicht, paddelten wir in der Warthe stromauf wesentlich leichter. Wollten wir aber in die Warthewiesen und hatten eine längere Tour vor, dann trugen wir die Boote die paar 100m durch die kleine Glacis. Dort gab es am Kietzerbusch Bahnhof einen Durchlaß zu den vielen Wasserläufen des Warthebruches. Eine beliebte Tagestour ging nach Priebrow, einem kleinen Fischerdorf vor Sonnenburg, heute Slonsk. Mein Bruder erzählte mir damals, daß er mit seiner Frau bei hohem Wasser sogar die Lenze bis zum Sonnenburger Schloß emporgepaddelt wäre. Dort hatte eine Tante eine Landwirtschaft, bei der sie dann übernachteten.
Zwischen Warthe und Oder gab es von Tschernow nach Säpzig einen breiten Graben. Auch das war eine beliebte Tagestour. Allerdings mußte man das Boot samt Ausrüstung auch hier ein paar Meter tragen. Dieser Graben ist noch heute vorhanden, scheint aber stark verwachsen zu sein. Nicht ganz ungefährlich waren die Touren, wenn die Warthewiesen ganzflächig überschwemmt waren und nur noch ein paar Bäume und Sträucher aus dem Wasser ragten. Kam dann Wind auf, gab es Wellen bis zu 2m Höhe.
Die überaus reiche Tierwelt dort muß man erleben, das kann man gar nicht beschreiben. Sie hat sich bis heute erhalten. Die Ruhe nach den Krieg hat hier noch belebend gewirkt. Die Polen haben das gesamte Gebiet nun unter Naturschutz gestellt. Hoffentlich lassen sie eine kleine Nische für die Wasserwanderer und andere Naturfreunde.
Kehren wir zum Club zurück. Viele Jugendliche und Kinder verlebten dort mit ihren Eltern ihre Freizeit. Herr Hase, der Vorstand, wollte unsere Freizeit sinnvoll gestalten. Er schmiedete große Pläne und gewann unser Interesse. Als Drogist hatte er die nötigen Beziehungen, ohne die ging damals schon nichts mehr. Wir bauten mit ihm einen Vierer-Rennkajak. Jede freie Stunde verbrachten wir nun in der Werkstatt und hatten viel Freude dabei. Herr Hase war ein strenger aber sehr beliebter Lehrmeister mit viel Verständnis für uns Jugendliche. Es gab Rückschläge; aber eines Tages war es dann doch geschafft. Ulla Hase, seine Tochter, schreibt mir in einem ihrer Briefe über die Probefahrt: "Ich kann mich sehr gut an den Vierer-Kajak erinnern. Habe ich doch selbst helfen müssen, ihn zu bauen, mußte hineinkriechen, so daß Vater nieten konnte. Doch nun etwas, was sicher ein Lächeln Deiner Seite hervorzaubern wird. Ich war als erste Freiwillige dabei, als der Viersitzer ausprobiert wurde. Er war nicht wasserdicht und schon nach einer Viertelstunde auf der Oder füllte er sich. Wir landeten alle sicher, aber wir saßen im Wasser auf unseren Sitzen und Vater mußte nachdenken, das Problem zu lösen. Es gab viel Gelächter, als wir alle mit nassem Po landeten."
Zum Trainieren für ein Rennen kam es noch; aber dann wurde einer nach dem anderen von der Mannschaft zum Wehrdienst eingezogen. Umsonst war die Arbeit trotzdem nicht, haben wir doch viel dabei gelernt.
Aus ist es nun mit diesem fröhlichen Treiben. Der Krieg hat auch diese Idylle zerstört. Alles fließt - nichts ist ewig. Aber es gibt Wiederholungen. Und so glaube ich, daß auch die Polen eines Tages dieses schöne Fleckchen Erde neu beleben werden. Es wird dann ein polnisches Lachen sein, mehr wohl ein europäisches, das hier erklingt. Und das tröstet mich über den schweren Verlust hinweg.
Rudi Vogt
Schauplatz "Kietzer Tor"
Im Gegensatz zu den anderen Toren der Küstriner Festung gab es keine Ansiedlungen vor dem Kietzer Tor. Dafür war einfach kein Platz vorhanden. Gleich hinter dem Festungsgraben gabelte sich die Straße in die Chausseen nach Göritz entlang der Oder und nach Sonnenburg entlang den Warthewiesen. Außerdem zweigte ein Promenadenweg, die Kleine Glacis, ab. In Richtung Göritz folgte erst nach ca. 1 km die Ansiedlung "Bienenhof", in Richtung Sonnenburg nach ca. 500 Meter der Bahnhof Kietzerbusch. In einem kleinen alten Festungswerk vor dem Tor gab es die Eisdiele Schwerdtner. Das Gelände war unübersichtlich, mit Büschen und Bäumen bestanden, im Frühjahr und Herbst teilweise überschwemmt.
Für uns Altstädter Jungen waren das ideale Spielplätze; wir konnten ungestört herumtoben, Buden bauen und in den Ferien die Zeit am Wasser vertrödeln. Fast alle Familien hatten 4 bis 5 Kinder; und die Eltern hatten nur wenig Zeit, sich um ihre "Gören" zu kümmern.
Schwerdtners Eisdiele zog besonders im Sommer und an den Wochenenden viele Besucher an. Wir Kinder bekamen bereits für einen Groschen (1 Zehn-Pfennig-Stück) eine große Eiswaffel. Es gab noch keine elektrischen Eismaschinen. Zerkleinertes Stangeneis wurde in große Bottiche geschüttet, in deren Mitte dann die flüssige Eismasse in einem Behälter maschinell gedreht und dabei zu Speiseeis abgekühlt wurde. Im Winter hatten wir zugesehen, wie dieses Stangeneis von den "Eismännern" auf den Gewässern geschlagen wurde. Zuerst wurden mit äxten Löcher in das Eis gehauen und dann große Platten herausgesägt. Am Eingang zur Kleinen Glacis wurden die Eisplatten per Hand meterhoch gestapelt und dann mit einer dicken Schicht Sägespäne und Holzabfällen abgedeckt. Das wiederholte sich jeden Tag, bis das Eis auf den Gewässern brüchig geworden war. Diese Eismiete wurde dann im Sommer abgetragen, und nicht nur die Eisdiele Schwerdtner war ein guter Kunde. Auch die Hotels und Gaststätten waren auf dieses Eis zur Kühlung von Speisen und Getränken angewiesen. Daß man dieses Eis solange dort bei sommerlichen Temperaturen halten konnte, wundert mich heute noch.
Das Gelände am Eingang zur Kleinen Glacis war auch der Stellplatz für die Zigeuner. Da sie stets dort rasteten, mußten ihnen die Stadtväter diesen Ort wohl zugewiesen haben. Meist waren es nur kleine Gruppen mit 4 bis 5 Wagen. Von dort zogen sie dann am Tage durch die Stadt und boten ihre Waren an, bunte Tücher, Teppiche, Kunstgewerbeartikel u.a.m.. Sie musizierten auch und tanzten, und nicht selten führten sie einen Tanzbär oder kleine äffchen mit. Die Männer trieben Handel mit Pferden, die Frauen betätigten sich als Wahrsagerin und konnten die Handlinien deuten und daraus den Menschen ihre Zukunft voraussagen. Obwohl meine Mutter nichts von den Zigeunern hielt, kaufte sie doch einmal einen kleinen Windhund aus Carrara-Marmor von ihnen, der lange Jahre unsere Anrichte in der "guten" Stube schmückte. Und immer hatten wir die absurde - mir heute völlig unverständliche - Warnung unserer Eltern in den Ohren: "Hütet Euch vor den Zigeunern; sie nehmen kleine Kinder mit und verkaufen sie dann." Das aber schreckte uns überhaupt nicht, zog uns eher unwiderstehlich an. Am Abend saßen wir dann in der Sonnenburger Chaussee und schauten in die Wagenburg der Zigeuner hinab. Die saßen am Lagerfeuer; ihre Geigen klagten oder jauchzten in wilden Tönen; und wenn sie gar tanzten, spürten auch wir den Rhythmus fremder Welten in uns.
Immer wieder zog es uns zu den Fischern und ihren Kähnen. Es gab einen kleinen Durchlaß durch den Eisenbahndamm am Kietzer Tor. Dahinter breiteten sich die weiten Wasserflächen der Warthewiesen aus, an deren Ufern die Fischer ihre Kähne vertäut hatten. Wir schauten ihnen zu, wenn sie ihre Netze einholten oder auslegten. Mancher Krebs und ungewollte Fang fiel auch für uns ab. Die Fische haben wir meist an Ort und Stelle über offenem Feuer geröstet und sofort verzehrt. Aber wir angelten auch mit selbst hergestelltem Angelgerät. Ich kann mich nicht erinnern, daß uns jemals jemand nach der Angelkarte gefragt hat. Es gab Fische im Überfluß. Heute ist alles so kompliziert, so geregelt geworden. Nichts ist mehr wie früher; und nie mehr werden Kinder so frei und ungezwungen aufwachsen, wie wir damals.
Rudi Vogt
Kindheitserinnerungen
Es gibt unauslöschliche, die man mit ins Grab nimmt. Als kleiner Junge habe ich eine blutige Schlacht zwischen Nazis, Reichsbannern (SPD) und Kommunisten in der Kommandantenstraße der Küstriner Altstadt im Gedächtnis. Vor und in der Gaststätte Pahl war man sich in die Wolle geraten. Wir waren damals zu klein, um zu begreifen, warum sich unsere Väter und Brüder die Köpfe blutig schlugen. Der Gastwirt Pahl hatte nach 1945 eine kleine Gastwirtschaft in einer Baracke auf dem Werbiger Umsteigebahnhof aufgemacht. Als erwachsener Mann kam ich mit ihm über diese Ereignisse ins Gespräch und machte mich schlau. Am Ende der Weimarer Republik drohte Deutschland im Chaos zu versinken. Da zählten keine Argumente mehr, man wollte seine politischen Gegner eher totschlagen. Am Ende waren es leider die Nazi- Schläger, die die Oberhand auf den Straßen gewannen und Deutschland in ein noch größeres Chaos stürzten.
Ungefähr 10 Jahre alt muß ich gewesen sein, als ich die schrecklich verzerrten Judenbilder des "Stürmer", einer Nazi- Zeitung, in einem Schaukasten auf dem Altstädter Marktplatz zu sehen bekam. In Erinnerung habe ich, wie mich meine Mutter immer am Ärmel wegzog, wenn ich vor diesem Kasten an der Straßenbahnhaltestelle stand. Sie war Stammkunde bei Danziger, einem Juden, der im 1.Weltkrieg als Offizier auf deutscher Seite gekämpft und als Tapferkeitsauszeichnung das eiserne Kreuz erhalten hatte. Er hatte eine auffällig hübsche Tochter, der wir schon als kleine Jungen nachschauten.
Und wie entsetzt war ich, als ich eines Tages Zeuge wurde, wie man dieses Mädchen grob mit ihren Eltern und ein wenig Gepäck auf die Pritsche eines Lastwagens zerrte. Ein paar Leute hatten sich versammelt und bekundeten ihr Mitleid. Die Polizei zerstreute sie rasch. Das Schicksal der Danzigers war noch lange Gesprächsstoff in unserer Familie. Menschen wie du und ich, wo sind sie geblieben?
Freundlichere Erinnerungen sind mir vom Trockenplatz hinter den Wällen am Kietzer Tor geblieben. Dort stand unter anderem die alte katholische Kirche, die Herberge "Zur Heimat" und das Feuerwehrdepot. Die Herberge war eine billige Unterkunft für Wandergesellen, Bettler, Musiker und Händler aller Art. Bestaunt haben wir die Wandergesellen in ihren bunten Trachten und ganz besonders die Zimmergesellen mit ihren breiten Hüten. Und immer waren wir Kinder dabei, wenn die Feuerwehr übte oder gar die Sirenen heulten und ein Einsatz bevorstand. Die Feuerwehrwagen und Spritzen wurden damals noch von Pferden gezogen. Die Gespanne stellten zwei Konkurrenten, die Kohlenhändler Klebe und Zorn. Ertönten die Sirenen, dann spannten sie die Pferde aus - wo auch immer der Kohlenwagen gerade stand - und rasten mit den Gespannen über das Kopfsteinpflaster der Altstadt zum Trockenplatz. Dann sprühten nur so die Funken beim Berühren der Hufeisen und des Geschirrs mit den Granitsteinen. Es war ein aufregendes Bild. Jeder wollte der erste am Spritzenhaus sein. Dieser Wettbewerb gehörte zur Berufsehre und wurde leidenschaftlich und immer aufs Neue ausgetragen. Gebraucht wurden beide Gespanne. War der Einsatz beendet, dann hingen die Schläuche tagelang zum Trocknen am Turm des Feuerwehrdepots.
Vom Trockenplatz aus hatte man auch Zugang zum "Käsekeller". Warum dieses Gewölbe innerhalb der südlichen Festungsmauer so hieß, kann ich nicht ergründen. Eine Treppe führte hinab, und der Eingang war durch eine Tür und ein Vorhängeschloß verschlossen. Immer wieder wurde diese Tür aber auch aufgebrochen. In dem finsteren Raum hingen die Fledermäuse an der Decke und hielten ihren Winterschlaf. Wir Jungen hatten weder Angst vor Ratten, Mäusen und Spinnen noch vor diesen Tieren. Wir berührten und untersuchten sie, haben aber niemals welche gequält oder getötet. Der Begriff Naturschutz war damals unbekannt. Es gab Fledermäuse überall, und in den späten Abendstunden konnte man sie bei ihrem seltsamen Zickzackflug beobachten, wie sie auf Insektenfang gingen. Erst unsere Zeit hat es mit sich gebracht, daß auch Fledermäuse vom Aussterben bedroht sind. Unsere Welt ist ärmer geworden.
Rudi Vogt
Geschichten aus dem alten Küstrin
Wenn ich meinen Enkelkindern etwas aus meiner Kindheit erzähle, bin ich oft erstaunt, wie interessiert sie sich die alten Geschichten anhören. Sechzig Jahre sind doch eine lange Zeit und was hat sich seit dem nicht alles verändert?
In der Küstriner Altstadt konnte meine Mutter noch ihrer Nachbarin gegenüber in den Suppentopf schauen und sehen, ob bei der Weißkohl mit Kümmel oder Wrucken (Kohlrüben) mit Majoran auf dem Tische standen. So eng und schmal waren die Gassen und Hinterhöfe. Jeder teilte Freud und Leid mit dem anderen. So richtig glauben konnten meine Enkelkinder das wohl erst, als ich mit ihnen die freigelegten Gassen der Altstadt besichtigte.
Unsere Lieblingsspiele damals in den engen Straßen waren Treibeball und "Eckenkieker, von wo kimmste?" Die Hinterhöfe und Durchgänge von Straße zu Straße waren uns vertraut wie unsere eigene Hosentasche. Da machte das Versteckspiel besonders großen Spaß. Nur Fußgänger und selten ein Pferdefuhrwerk belebten die Straßen, so daß wir ungestört spielen konnten.
über das Dach unseres Hauses - das höchste in der Umgebung - liefen die Telefonleitungen zum Rathaus und von dort zur Post. Das Summen der Drähte klingt noch heute in meinen Ohren. In der Dachstube wohnte Herr Könning, ein Straßenhändler, der bei uns Kindern sehr beliebt war. Ihm habe ich oft zugehört, wenn er von den Erlebnissen auf seinen überlandtouren berichtete. Dabei schaute ich aus seinem Dachfenster und sah den Schwalben zu, wie sie pfeilschnell jagten. Der Blick schweifte weit über die Dächer der Altstadt bis zur Oder, wo sich die Dampfschleppzüge mühsam stromauf quälten. Wenn Herr Könning mit der Bimmelbahn über Land fuhr, dann führte er ein eigenartiges Sortiment mit sich, u.a. Bücklinge, Schreibpapier, Hosenträger, Schnürsenkel und Druckknöpfe. An die Bücklinge erinnere ich mich deswegen so genau, weil er uns Kindern die angequetschten immer zum Verzehr schenkte.
An den Sonnabenden war Wochenmarkt. Ein ähnliches Schauspiel bieten noch heute die polnischen Wochenmärkte. Bauern, Gärtner und Fischer kamen damals aus allen Dörfern der Umgebung zum Marktplatz in der Altstadt. Wie oft haben wir da ihre Pferde gestreichelt; mußten aber auch zusehen, wenn eine Henne geköpft oder ein Fisch ausgenommen wurde. Jeder Bauer butterte damals selbst und bot die Butter in speziellen Formen an. Ehe meine Mutter ein Stück kaufte, hatte sie wohl vorher 5 Stücken mit der Nagelprobe (per Daumennagel ) auf Geschmack, Salz- und Wassergehalt geprüft. Wer jetzt die Nase rümpft, der sollte einmal den Fernseh-Köchen bei der Arbeit zuschauen, die nehmen auch lieber die Hand als Messer und Löffel. Wir hatten jedenfalls immer gute Butter auf dem Tisch.
Auch meine Tante aus Sonnenburg bot manchmal ihre Waren auf dem Markt an. Schon am frühen Morgen hatte sie sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht und die schwere Kiepe mit Butter, Eiern, Quark u.a.m. 14 km (!) auf ihrem Rücken getragen. Kann man das heute noch nachvollziehen? Und nur, wenn sie alles gut verkauft hatte, löste sie sich am Nachmittag ein Billet auf dem Kietzerbusch- Bahnhof und fuhr zufrieden mit der Bimmelbahn nach Hause. Später kam meine Tante übrigens per Rad zum Markt. Das war ein "Ewigtreter" (Fahrrad ohne Freilauf), auch Knochenbrecher genannt. Ich habe es nur einmal versucht, damit zu fahren, und hatte dann für immer die Nase gestrichen voll.
Rudi Vogt
Pellkartoffeln mit Öl waren ein Festessen
Wir waren sieben Geschwister und sind aufgewachsen in der Weimarer- und in den Anfängen der Nazizeit. Es gab in Deutschland sieben Millionen Arbeitslose. Obwohl unser Vater als Kriegsversehrter bei der Bahn als Schrankenwärter eine feste Anstellung hatte, frage ich mich heute immer wieder, wie uns unsere Mutter damals alle satt bekommen hat. Und ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals trocken Brot mit Stulle gab. Die Mütter waren damals sehr erfinderisch.
Mich schüttelt es heute noch, wenn ich an die sauersüßen Kartoffeln denke. Das war eine einfache Kartoffelsuppe mit einer Prise Salz, etwas Zucker und einem Löffel Essig, aufgebessert mit angebratenen Zwiebeln. Etwas besser schmeckten schon die Heringskartoffeln, Kartoffelsuppe mit einem kleingeschnittenen Salzhering und in Speck angebratenen Zwiebeln.
Fast ein Festessen war es, wenn es Pellkartoffeln mit Leinöl und einer Prise Salz gab. Und gab es dazu dann noch weißen Käse (Quark) mit Zwiebeln, glänzten unsere Augen. Den Käse hatte meine Mutter immer selbst aus saurer Milch hergestellt, um ein paar Pfennige zu sparen.
Man ließ die saure Milch durch ein sauberes Leinentuch ablaufen, und fertig war der Quark. Der hat mir damals weitaus besser geschmeckt als der Quark, den es heute in Plastebechern in jedem Supermarkt gibt.
Und erst Leinöl! Das brachte uns ein Händler, der mit einer Milchkanne voll Öl, einer Schöpfkelle und einer Bimmel (kleine Glocke) unterwegs war, bis an die Wohnungstür. Nie wieder habe ich solch frisches Leinöl gerochen bzw. gekostet.
Hatte unser Fleischer Saremba Schlachttag, dann gab es frische Wurstsuppe für Stammkunden umsonst. Da musste man sich dranhalten, um etwas abzubekommen. Und war die Fleischersfrau gutgelaunt, landete auch manchmal eine beim Brühen aufgebrochene Wurst in meiner großen Emaillekanne. Ich muss gestehen, dass diese Wurst selten das elterliche Haus erreichte, war der Heißhunger darauf doch zu groß.
Zu Hause angekommen, wurde erst einmal das überflüssige Fett oben abgeschöpft. Dieses Wurstschmalz ergab einen heißbegehrten Brotaufstrich. Am nächsten Tag stand dann Wurstsuppe mit Pellkartoffeln auf Mutters Speiseplan.
Kurz vor Ultimo musste ich oft für einen Sechser (5-Pfennigstück) Zippelwurst vom Fleischer holen. Die reichte abends für uns alle zum Brotaufstrich und noch für Vaters Stullen zur Arbeit.
Roch es in der Küche nach Brühsuppe, dann hieß das noch lange nicht, dass auch Rindfleisch in der Suppe war. Das hatte Mutter vorher herausgenommen, ehe die Suppe auf den Tisch kam. Am nächsten Tag gab es das Kleingeschnittene in Mostrichsoße und Salzkartoffeln. Bleibt heute Fleisch in unserem Haushalt von einer Mahlzeit übrig, bitte ich meine Frau, mal wieder Mostrichsoße zu kochen; und gern stillt sie dieses Verlangen nach Mutters Hausmannskost.
Ich kann mich nicht erinnern, je in meiner Kindheit einen geschälten Apfel gegessen zu haben, und auch der Griebsch (Kerngehäuse) musste mitgegessen werden. Es gab damals allerdings noch keine gewachsten äpfel. Meist holten wir sie uns frisch vom Baum, und der stand nicht immer im eigenen Garten.
Wenn ich heute in der Gaststätte ein Kotelett esse und mein Gegenüber wundert sich, dass ich auch den Knochen abknabbere, so kann ich den nur bedauern. Das Fleisch am Knochen schmeckt am besten. Und was man als kleiner Junge tun musste, ist schwer aus einem herauszukriegen.
Ich war noch nicht den Kinderschuhen entwachsen, da starb meine Mutter. Sie liegt auf dem Waldfriedhof in Küstrin-Neustadt begraben. Schmücken konnte ich ihr Grab nach dem Krieg nicht mehr. Der Friedhof war sinnlos zerstört worden. Auch die Polen haben viele Dummheiten begangen.
Rudi Vogt