Nein, es stimmt schon alles, wobei Zickenschulze auch Zicken-Born oder anders hätte geheißen haben können. "Zickenkietzer" entwickelte sich eine Zeitlang gar zum Schimpfwort. Vielleicht war auch ein bißchen Neid dabei, denn die Ziege war damals in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen "die Kuh des kleinen Mannes". Wer sie sein eigen nannte, konnte seine Familienmitglieder zumindest vor dem gröbsten Hunger bewahren. Das Wort "Hunger" ist hier mit Bedacht gewählt worden. Bei 7 Millionen Arbeitslosen gab es damals noch keine "soziale Marktwirtschaft", die die Härten der Arbeitslosigkeit hätte abfangen können. Mit 2-3 Litern Milch am Tag war der Besitz einer Ziege für die Kleinkinder oft lebensrettend. Auch die Osterlämmer waren nicht zu verachten und eine willkommene Abwechslung im kargen Speiseplan.

Besonders in den Vorstädten und in den Laubenkolonien am Rande der Stadt wurden viele Ziegen und anderes Kleinvieh gehalten. Die Laubenkolonien entstanden oft auf alten Mülldeponien, wie z.B. am Kietzer Tor und zwischen der Sonnenburger und Göritzer Chaussee und östlich der Wallstraße. Aber auch auf den engen Hinterhöfen der Küstriner Altstadt wurden Hühner und Kaninchen gehalten. Auch in unserer Familie wurden alle Küchenabfälle gesammelt. Ich brachte sie dann zu einer Familie Lehmann, die am Markt wohnte und am Bienenhof einen Kleingarten besaß. Wenn ich dann 1 oder 2 Hühnereier als Gegengabe bekam, war die Freude immer riesengroß. Diese Kleingärtner bewirtschafteten jedes Stückchen Erde, da wurde keine Ecke und kein Feldrain ausgelassen. Das führte dann auch dazu, das die Landschaft sauberer aussah. Abfälle in der Gegend zu verstreuen, wäre keinem auch nur im Traume eingefallen.

Kleintierhaltung war also allgemein verbreitet. Warum aber in der Langen Vorstadt von Küstrin-Kietz besonders viele Ziegen gehalten wurden, das will ich nun begründen:
Da spielte erst einmal die Nähe des Oderdammes eine große Rolle. Alle Jahre wieder wurden 100 m- Abschnitte von der Deichverwaltung zur Heugewinnung an Interessenten verpachtet. Auch ich habe lange Jahre nach 1945 einen solchen Abschnitt gemäht. Bei der schweren Hanglage war das eine mühsame Arbeit. Früh am Morgen, wenn noch der Tau im Gras war, schnitt die Sense am besten. Das fertige Heu wurde dann mit dem Heuwagen nach Hause gefahren. Da immer mal ein Regenguß drohte, war man heilfroh, wenn man alles auf dem Heuboden verstaut hatte.

Weniger anstrengend war da schon die Heuernte auf der Straße. Klingt ein bißchen eigenartig dieser Satz, nicht wahr? Aber damit erläutere ich nun schon einen weiteren Grund. Ursache für die Heugewinnung auf der Straße, war das Kopfsteinpflaster (auch Stuckerpflaster genannt) der Chausseestraße in der Langen Vorstadt. Im Juni sah man die Leiterwagen der Bauern aus den umliegenden Höhendörfern, wo saftige Wiesen selten waren, zur Heugewinnung ins Warthebruch fahren. Zwischen Sonnenburg und Küstrin liegt das große überschwemmungsgebiet der Warthe, das die Polen heute unter Naturschutz gestellt haben. Besonders das Frühjahrshochwasser nach der Schneeschmelze in den Gebirgen düngt die Wiesen reichlich und bringt nach dem Abfluß des Wassers ein üppiges Grün hervor. Das Heu dieser Wiesen war so begehrt, das auch Bauern aus Seelow und Umgebung die lange Anfahrt nicht scheuten und nicht selten vor Ort im Heu übernachteten. Die Ernte mußte schnell geborgen werden, denn nicht selten drohten mächtige Sommergewitter und darauffolgende überschwemmungen die Erfolge mühsamer Arbeit zunichte zu machen. Passierte das alle 10 Jahre einmal, dann schwammen die Kapitzen (Heuhaufen) von den Wiesen durch die Warthebrücken, und manchmal saß dann auch ein Hase obenauf, der sich vor dem Ertrinken retten wollte.

War aber alles gutgegangen, dann zogen die Pferde die hochbeladenen Leiterwagen über das Stuckerpflaster. Und waren die Wagen noch so kunstvoll beladen und durch Stangen und Seile gesichert, ein Teil rutschte unterwegs immer ab und landete auf der Straße. Kippte gar die ganze Ladung, dann hatte der Fuhrmann neben dem Schaden auch noch den Spott zu tragen. Die Anwohner der Chausseestraße konnten sich in diesen Tagen jedenfalls reichlich Heu zusammenharken und sich so weiteres Winterfutter sichern.

Wo Ziegen gehalten werden, muß natürlich auch ein Ziegenbock sein. Der mußte gut im Futter stehen, denn wenn die Deckzeit kam, hatte er eine Hochleistung zu bringen. Der Halter des Bockes - eben Zickenschulze - mußte eine Vertrauensperson sein. Von seiner Fürsorge für den Bock hing das Wohl und Wehe einer ganzen Gemeinschaft ab. Meist wurde er in den Kleintiersparten von den Mitgliedern gewählt. Damit waren auch gewisse Einnahmen verbunden. Leider verbreitete der Bock einen penetranten Geruch, der auch dem Zickenschulze anhaftete. Das trübte die Einnahmequelle sicher, aber wie so oft im Leben, kann man sich an alles gewöhnen.

In der Deckzeit sah man dann die Ziegenhalter mit ihrem sauber herausgeputzten Prachtstück zum Bock ziehen. Wollte das Tier dann nicht so recht laufen und zog störrisch an der Leine, wurde der Gang zum Bock wegen der immer zu Scherzen aufgelegten Passanten oft ein wahres Spießrutenlaufen. Lammte die Ziege danach aber gut, war alles vergessen und die Freude groß.

Rudi Vogt