in: Königsberger Kreiskalender 1994

Küstrin war 1992 wieder Gesprächsthema Nr. 1. Anlaß dazu waren dieGrenzöffnungen für den Eisenbahnverkehr am 30.05. und für denStraßenverkehr am 21.11. Somit wurden die alten Verbindungen der1945 geteilten Stadt wiederhergestellt. Die im Krieg zerstörten Brücken wurden 1947, unter sowjetischer Hoheit, wieder aufgebaut. Doch jeglicher Verkehr ruhte seitdem und die ganze Umgegend verfiel im Dornröschenschlaf.

Die zweigleisige Eisenbahnbrücke erlangte wieder an Bedeutung, jedoch nur für den Güterverkehr. Nach Fertigstellung der Brücken verließen die Sowjets Küstrin für etwa 10 Jahre. Doch Ende der 50er Jahre kehrten sie zurück und nahmen Garnison in der Artillerie-Kaserne in der Altstadt. Wenig später war das gesamte Gelände der Altstadt zwischen Oder und Odervorflut durch sowjetische Truppen besetzt (eine Insel war es geworden).

Beide Brücken sollten im Sommer 1968 einen traurigen Höhepunkt erleben! Küstrin war wieder ein strategisch wichtiger Punkt. Scheinbar endlose Kolonnen der sowjetischen Armee fuhren über diese Brücken Richtung CSSR, um dort den ,,Prager Frühling'' niederzuwalzen.

1989 sprengten die Völker im gesamten Ostblock die Fesseln ihrer Diktatur. Die so unüberwindlichen Grenzen verloren ihre grausame Bedeutung. Die Ideen der völkerverbindlichen Brücken bekamen reichlich Nahrung, so auch in Küstrin. Wohl auch deswegen verließen die sowjetischen Truppen dann überraschend bis zum 15.05.1991 die Altstadt.

Der Weg war scheinbar frei, doch das gesamte Gebiet wurde erneut gesperrt. Zu den Kostrzyner Stadtfestspielen im Juni 1991 gab es eine befristete Grenzöffnung per Eisenbahn. Für 3 Tage, vom 14.-16. Juni, rollte der Grenzverkehr zwischen Küstrin-Kietz und Küstrin-Neustadt (Kostrzyn). Am Tag der Rückbenennung auf Küstrin-Kietz, am 03.10.1991, war ebenfalls der befristete Grenzverkehr eingerichtet worden.

Eine drängende Frage Ende 1991 und Anfang 1992 lautete wohl: Wann wird nun die Grenze in Küstrin geöffnet, zumindest auf dem Schienenwege? Aus Bonn und Warschau kam dann endlich grünes Licht! Zum Fahrplanwechsel der DR, am 31.05.1992, wird der regelmäßige Reisezugverkehr zwischen Deutschland und Polen über Küstrin aufgenommen. Um dieses Ergebnis würdig zu begehen, wurde vom Bahnhof Küstrin-Kietz ein Bahnhofsfest veranstaltet. Daher erfolgte die Grenzöffnung bereits am 30.05.1992 mit einem Sonderzugverkehr und ab 31.05.1992 erfolgte der fahrplanmäßige Zugverkehr.

Am 30.05.1992 war es dann soweit. Gegen 8 Uhr wurde die Menschenmenge auf dem Bahnhofsvorplatz in Küstrin-Kietz immer größer. Einwohner und Gäste, Interessierte und ehemalige Einwohner versammelten sich hier. Gegen 9 Uhr fuhr ein Sonderzug mit Eisenbahnfreunden aus Berlin ein, natürlich mit Dampflok und historischen Waggons. Gegen 9.15 Uhr traf die polnische Prominenz mit dem Wojewoden Zbiegniew Pusz an der Spitze ein. Um 9.30 Uhr fuhr der Sonderzug mit dem Ministerpräsidenten Stolpe und Hemjö Klein, Mitglied-Vorstand DR/DB, ein.

Es folgten nun die Ansprachen der Repräsentanten beider Regierungen und beider Eisenbahnen. Bei DR und DB ist es der umfangreichste Fahrplanwechsel der Nachkriegszeit. Mit dem Durchschneiden des Bandes durch Manfred Stolpe, Hemjö Klein und Zbiegniew Pusz wird diese Strecke für den Personenverkehr freigegeben. Nach 47 Jahren Unterbrechung wird wieder der Reisezugverkehr auf der alten ,,Ostbahn'' aufgenommen. Anschließend betätigte sich Manfred Stolpe als Aufsichter und als Zugführer. Er lud zur Mitfahrt nach Küstrin-Neustadt (Kostrzyn) ein. Mit roter Aufsichtermütze und der Kelle in der Hand ließ er den ersten Reisezug über die Oder abfahren.

Die Fahrt führt vom Bahnhof Küstrin-Kietz über die Odervorflutbrücke, über die Oderbrücke,

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Die zweigleisige Eisenbahnbrücke mit Eisgang im Winter

über die Warthevorflutbrücke, über die Warthebrücke zum Bahnhof Küstrin-Neustadt (Kostrzyn) und dauert 5 min. Bürgermeister Wladyslaw Mysona empfängt dort den ersten Reisezug.Kostrzyns Bürgermeister lud zu Sekt ein und zeigte den Bahnhof sowie das Bahnhofsgebäude. Es wurden Ansprachen der beiden Seiten gehalten. Stolpe überreichte Mysona einen rot-weißen Regenschirm, ein Symbol gemeinsamer Landesfarben. Zahlreiche Schaulustige aus Polen und Deutschland säumten auch diesen Festakt. Dieser erste Reisezug kam dann prompt mit Verspätung zurück und somit war die Eröffnung schon Geschichte. Beiderseits wurde mit großer Zuversicht von der Zukunft gesprochen. Küstrin wurde als Mittelpunkt Europas bezeichnet. Die Verbindungen Berlin-Warschau, Landsberg-Seelow und Küstrin-Küstrin sind wesentlich kürzer und eine engere Konspiration ist möglich. Beide Regionen erhoffen einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Die Grenzöffnung hat große Vorteile, aber man muß auch sensibel gegenüber den Ängsten sein, die teilweise aus alten Vorurteilen herrühren. Der ehemalige Eisenbahnknotenpunkt Küstrin könnte die einstige Bedeutung wiedererlangen. Auch heute noch fährt die Eisenbahn ab Küstrin in sieben Richtungen. Die Hauptbahnen Berlin-Küstrin-Landsberg-Kreutz, Stettin-Küstrin-Breslau, sowie nach Frankfurt/Oder, Sonnenberg, Stargard.

An beiden Tagen fand eine Eisenbahnausstellung von DR und PKP auf dem Bahnhof Küstrin-Kietz statt. Die Dampfloks waren natürlich der Renner! Weiterhin konnte die Muskelkraft bei einer Fahrt mit der Draisine erprobt werden. Ein kleiner Markt und Stände mit Eisenbahnmaterial warben um die Gunst der Käufer. Täglich fahren 5 Reisezugpaare, am Wochenende 2 Eilzugpaare von Berlin nach Landsberg. Seit Fahrplanwechsel im Mai 1993 ist der Grenzverkehr deutlich erweitert worden.

Am 14.11.1991 trafen sich Ministerpräsident Stolpe und der Wojewode Niewiarowski auf der Oderbrücke in Küstrin und vereinbarten, daß hier am 01.09.1992 die Grenze geöffnet werden soll. Durch die fehlende Instandhaltung ist diese Brücke allerdings in einem desolaten Zustand.

Beiderseits erfolgten nun Gutachten zur Belastbarkeit und zur Rekonstruktionsmöglichkeit. Die alte sechsfeldrige Brücke wurde im Krieg zerstört. 1947 wurde die Brücke teilweise aus Resten der alten wiederaufgebaut. Der polnische Brückenteil ist ein Stahlbetonüberbau und ist sanierungsfähig. Auf der deutschen Seite sind 2 Felder eine Stahlfachwerkbogenkonstruktion und 1 Feld ein Brückengerät der Wehrmacht.

Hier ist keine Sanierung mehr möglich. Dafür wird eine Behelfsbrücke, aus dem Katastrophenbestand des Bundes, errichtet. Für die Odervorflutbrücke ist ebenfalls ein Gutachten erstellt worden. Die Instandhaltung ist auch hier vernachlässigt worden, dazu kam noch das Befahren durch schweres Militärgerät. Somit ist dieser Brückenbau das Projekt Nr. 1 in der Oderregion und beginnt etwa Mitte April 1992.

Da noch genügend verborgene Munition vermutet wurde, ist das gesamte Bau-Areal sorgfältig abgesucht worden. Eine große Stückzahl von diesen gefährlichen Resten wurde geborgen. Bei dieser Aktion wurden auch Teile der 1945 gesprengten Vorflutbrücke entdeckt.

Nach Instandsetzen der Pfeiler erhielt die Odervorflutbrücke einen neuen Belag mit Fahrrad- und Fußweg, sowie ein neues Brückengeländer. Die Detlefsenstraße bekam eine neue Abwasserleitung, einen neuen Belag und daneben einen kombinierten Fuß- und Radweg. Die Straße wurde auf 6,60 m Breite verkleinert, um die Baumallee zu schützen.

Der Zeitdruck auf die Bauarbeiten nahm zu und der 01.09.1992 war nicht mehr zu halten. So war dann der 03.10.1992 als Termin im Gespräch. Polen erörterte Deutschland seine Finanzschwierigkeiten. Schließlich wurden Lösungen erarbeitet und Polen begann mit den Sanierungsarbeiten an den Brückenfeldern.

Auf deutscher Seite wird bis zur Odermitte eine Behelfsbrücke, aus vorgefertigten Teilen, als Durchlaufkonstruktion errichtet. Ende Juli erfolgte der teilweise Abriß der alten Stahlkonstruktion für den bevorstehenden Einschub der neuen Brücke. Die neue Brücke wird zu einem Block von etwa 20 m montiert und dann in die alte Brücke eingeschoben. So geht es weiter Stück für Stück, bis eine Länge von 130 m und die Flußmitte erreicht ist. Innerhalb von 3 Wochen ist diese Arbeit bewältigt worden und nun wurden die restlichen Teile der alten Brücke abgebaut. Die Brücke hat eine Tragfähigkeit von 30 t, einen 6 m breiten Belag und besteht aus einem außen angebrachten Bohlen-Fußweg.

Polen arbeitet an der Straßenzuführung, kommt aber erneut in Terminschwierigkeiten. Nun wurden mehrere Termine gehandelt und dann endgültig der 21.11.1992 festgelegt. In einem zugeschütteten Bombemtrichter ist bei Tiefbauarbeiten dieses eiserne, mannshohe Schild entdeckt worden.

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Dieses Schild ist in die sanierte Brücke integriert

Nach Restaurierungsarbeiten fand es links vor der Odervorflutbrücke in Richtung Altstadt seinen Platz.

Die Arbeiten auf deutscher Seite sind Anfang Oktober 1992 abgeschlossen. Aus diesem Anlaß wurde am 16.10.1992 der brandenburgische Adler an der Oder gehißt.

Die Kosten betragen:

  • Detlefsenstraße: 4,5 Mill. DM
  • Odervorflutbrücke: 4,2 Mill. DM
  • Oderbrücke: 4,4 Mill. DM

Ein kühler regnerischer Tag sollte der 21.11.1992 werden. Trotz dieses unbehagenen Wetters strömten die Menschen zum neuen Grenzübergang. An der Odervorflutbrücke begann für die Jüngeren ein unbekanntes Gebiet, die Älteren sahen Vertrautes wieder. Diese Brücke, mit ihren markierten Fahrbahnen, Radwegen und Fußstegen wurde zuerst überschritten. Dann schloß sich die Detlefsenstraße mit ihrer herrlichen Baumallee an, deren Pracht sich im Sommer wunderbar entfaltet.

Zwischen Straße und Kaserne ist der Rad- und Fußweg angelegt. Außerdem ist diese Straße durch einen 2 m hohen Zaun vom restlichen Terrain abgetrennt! Noch während der Bauarbeiten schrieb die untere Denkmalbehörde und die Denkmalfachbehörde die Denkmalswürdigkeit für den Artilleriekasernenkomplex, die Detlefsenstraße mit Natursteinplaster, die Baumallee und Gehwege fest.

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Hauptgebäude und Offizierkasino der Artilleriekaserne

Der ursprüngliche Zustand soll wieder hergerichtet werden. Am Ende der Detlefsenstraße ist erstmal Halt, das Tor ist noch verschlossen. Hier befindet sich die deutsche Abfertigungsstelle.

Ein Polizeiorchester spielte zu diesem Tag auf. Gegen 11 Uhr traf Ministerpräsident Stolpe ein. Er wurde von den Einwohnern und Gästen, sowie vom Bürgermeister von Küstrin-Kietz, herzlich willkommen geheißen. Stolpe sah sich zunächst den Abfertigungsbereich von BGS und Zoll an.

Jetzt begaben sich die deutschen Repräsentanten, gefolgt von Hunderten von Menschen, auf die Oderbrücke. Die polnische Seite war auch bereits unterwegs. Auf der Flußmitte wurde der historische Augenblick vollzogen. Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe und der Wojewode von Gorzow Zbiegniew Pusz durchschnitten das Band und gaben den Verkehr auf dieser Straße frei. Tosender Beifall von nun Tausenden Deutschen und Polen begleitete diesen feierlichen Akt. Was mag wohl den Menschen bei dieser Szene durch den Kopf gegangen sein: Trecks von Flüchtlingen, Festung Küstrin, Rückzug der Wehrmacht, Einnahme durch die Rote Armee, Kriegsgefangene und Verschleppte nach Osten, Vertriebene nach Westen, geteilte Stadt, eine Brücke - eine Hoffnung, polnischer Markt, Einkaufen, ...

Die Jüngeren sind neugierig auf den Nachbarn, die Älteren werden die schmerzlichen Erinnerungen tragen. Nun näherte sich die Menschenmenge langsam dem polnischen Abfertigungskomplex.

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Grenzabfertigungsbereich auf der polnischen Seite

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Straßenbrücke Richtung Polen kurz vor der Öffnung des Grenzübergangs

Zunächst rechts die Bastion König, dann folgt das Berliner Tor. Die historische Altstadt existiert nicht mehr, nur ein einziges Haus hat die Zeit überdauert. An der polnischen Kontrollstelle angekommen, spielte ein polnisches Militärorchester die Hymnen beider Nationen. Es folgten die Ansprachen der Politiker beider Länder. Für das Land Brandenburg ist es der 7. Übergang nach Polen. Nach 47 Jahren ist die direkte Verbindung der Stadt, die Ost-West-Achse, die alte Reichsstraße 1, von Aachen nach Königsberg, in der Mitte Europas wiederhergestellt.

Der deutsche und der polnische Teil Küstrins sind nun nicht mehr idyllisch gelegen und auch nicht mehr am Ende der Welt. Dieser Grenzübergang wird zur Entlastung des Grenzüberganges Frankfurt/Oder - Slubice beitragen. Für etwa 10 Jahre soll dieses eine Übergangslösung sein bis dann eine Ortsumgehung von Küstrin mit nur einer Brücke über die Oder führt. Der Bürgermeister von Kostrzyn Grezegorz Tomczak gab einen Empfang im Kulturhaus des Zellulosewerkes, wo auch eine Pressekonferenz stattfand.

Ab 11.00 Uhr hatten nur Fußgänger und Radfahrer ,,Freie Fahrt''. Der offizielle Straßenverkehr wurde ab 14 Uhr freigegeben. Die Einwohner sind natürlich froh darüber, daß nur PKW und Busse die Brücke passieren dürfen. Küstrin-Kietz als Durchfahrtsort findet kein Gefallen! Außerdem wird zweimal getrennt kontrolliert, auf deutschem und auf polnischem Territorium. Später soll eine gemeinsame Abfertigung auf polnischem Gebiet stattfinden.

Die B 1 wird in Zukunft mehr überregionale Aufgaben erfüllen müssen. Was den deutsch verbliebenen Teil der Altstadt betrifft, gibt es Vor- und Nachteile:

Zum einem ärgert der 2 m hohe Zaun links und rechts der Detlefsenstraße. Außerdem sind Umweltschäden durch das Militär entstanden, wie munitionsverseuchte Gebiete, Schäden durch Öle, Kraftstoffe und Abwässer. Andererseits konnte sich auf der Nord- und Südspitze der Altstadt (zwischen Oder und Odervorflut) eine einzigartige Natur erhalten und auch bilden. Wertvolle Tiere und Pflanzen konnten sich ungehindert entfalten. Hier sind umfangreiche Bemühungen zugange, um dieses Areal unter Schutz zu stellen. Der bis zum Krieg genutzte und besiedelte Teil soll auch, nach neuesten Projekten, nur wieder bebaut werden.

So könnte und muß eine beeindruckende Natur geschützt werden, um die Nachkommen an der Flora und Fauna zu begeistern. 

Martin Rogge

Küstrin, Mai 1993