Ein Mäusebussard wird gerettet

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Man schrieb das Jahr 1930, ich war fast 10 Jahre alt und kannte keinen größeren Wunsch, Mitglied bei den Ringpfadfindern in der Küstriner Altstadt zu werden. Tatsächlich wurde ich aufgenommen und gehörte nunmehr dem Stamm "Adler" an. Wir Jungen waren etwa alle im gleichen Alter. Zur Tracht eines Pfadfinders gehörte ein braunes Hemd, ein blaues Halstuch mit Messingring und eine auf dem Oberarm des Hemdes gestickte Pfadfinderlilie, nicht zu vergessen, die schwarzen kniefreien Hosen, auf die wir besonders stolz waren.

Zum Leben der Küstriner Pfadfinder gehörten Heimabende, Sport und Spiel auf dem Gohrin, Wochenendfahrten in die schöne brandenburgische Landschaft. Um ein "Wölfling" zu werden, bedurfte es der Ablegung einer kleinen Prüfung. Man mußte es verstehen, ein Zelt errichten zu können, mußte unter Beweis stellen, daß man auch morsen und Karten lesen konnte und es auch fertig brachte, eine Fährte zu verfolgen. War man "Wölfling" geworden, so war man berechtigt, fortan eine gelbe Wölflingsschnur zu tragen.

Wieder einmal zog ein schöner Sommer ins Land. Die Ferienzeit begann. Wir brachen wie all die Jahre zuvor ins Brandenburger Land auf, wo unser Ziel die Kannenberge bei Spudlow waren. Hier hatten wir uns einen alten Munitionsbunker aus dem Ersten Weltkrieg als ein Landheim hergerichtet. So zogen wir an den Wochenenden und zur Ferienzeit meist singend die Sonnenburger Chaussee entlang.

Angekommen in unserem Landheim machte jeder erst einmal sein Quartier zurecht. Mit einem meiner Freunde machte ich mich auf den Weg ins Dorf Spudlow, um dort beim Bauern Kartoffeln zu kaufen. Heute kann ich es ja zugeben, daß wir uns auch zur Nachtzeit gelegentlich kostenlose Kartoffeln verschafften. Jeder Tag brachte ein anderes schönes Erlebnis, es war so, als würde die Ferienzeit nie enden.

Jeden Morgen, nach aufgehender Sonne, ging es hinunter zum Spudlower See, in welchen wir einen ersten Kopfsprung taten. Eines Morgens vernahmen wir ein fiependes Geräusch im Schilf. Wir gingen dem nach und fanden einen verletzten Mäusebussard vor. Der Vogel hatte sich einen seiner Flügel gebrochen. Nun war guter Rat von Nöten. Was konnten wir tun, um dem Tier zu helfen. Einer der Jungen, wir nannten ihn Häppi, griff vorsichtig nach dem Vogel, da hackte der schon mit seinem Schnabel nach seiner Hand. Das hatte also nicht besonders gut geklappt.

Häppi zog jetzt seine Badehose aus, umwickelte mit ihr zum Schutz seine Hand und drückte dann den Vogel ganz dicht an seinen Körper, so daß er sich nicht zu bewegen vermochte. Auf diese Weise gelang es uns, ihn ins Landheim zubringen, wo er einen Platz erhielt. Wir kamen dann auf die Idee, daß der Vogel trotz seines Zustandes vielleicht weghüpfen könnte und sich dabei noch schwerer verletzte. So befestigten wir eines seiner Beine an einer Schnur.

Nachdem wir dem Vogel einen provisorischen Verband angelegt hatten, stellte sich das Problem, für ihn Nahrung aufzutreiben. Was fraß ein Mäusebussard eigentlich, schon beim Stellen dieser Frage, brachen einige von uns in Gelächter aus. Mäuse natürlich, und so begaben wir uns nunmehr auf die Mäusejagd. Mit viel Geduld gelang es uns, ein paar Mäuse zu fangen, doch das reichte natürlich nicht aus. So versuchten wir jetzt, den Vogel an Schnecken zu gewöhnen, und wenn ihn gar der Hunger zu sehr plagte, reichten wir ihm ein paar Brösel aus unseren Cornetdosen.

Voller Freude erlebten wir mit, daß der Bussard alles andere als wählerisch war und keine unserer Gaben verschmähte. Alles drehte sich nun in diesen Tagen nur noch um "Häppi", so hatten wir ihn nach seinem tüchtigen Erretter benannt. Sorge bereitete uns, ob es gelingen könnte, in den noch verbleibenden 20 Ferientagen den Vogel wieder flugfähig zu bekommen. Aber es gelang uns.

Mit dem Ende der Ferienzeit kam der entscheidende Augenblick, wo nun der Mäusebussard den Beweis antreten mußte, ob er sich wieder in die Lüfte zu schwingen verstand. Anfänglich sah es gar nicht erfolgversprechend aus. Der Vogel hüpfte an der Leine ein wenig umher und versuchte, den verletzten Flügel zu bewegen. Wir hatten ihn an diesem Tag mit einer besonders kräftigen Nahrung versorgt.

So trugen wir dann den Vogel auf die höchste Spitze der Kannenberge, befreiten ihn dort von seiner Fessel, und siehe da, nach einigen hüpfenden Sprüngen erhob sich der Mäusebussard vom Boden. Anfangs sah alles noch etwas schwerfällig aus, doch dann kreiste er hoch über unseren Köpfen, als wollte er damit auf seine Weise uns einen Dank abstatten. Es war dies das schönste Erlebnis unserer Sommerferien, weshalb ich es bis zum heutigen Tage in meiner Erinnerung bewahrt habe.

Von Ernst Brieger