Das Ultimatum wurde zur Kenntnis genommen, aber nicht beantwortet. Nach dem mißlungenen zweiten Entsatzversuch wußte der Festungskommandant von Küstrin, daß ein Entsatz nicht mehr zu erwarten war. Damit begann das letzte Kapitel des Festungskampfes: Der Generalangriff der Roten Armee auf die Altstadt und die Vernichtung der eingeschlossenen Besatzung. Seit Beginn des zweiten Großangriffs hatten sich hier Bombardement und Beschuß verstärkt. Bereits am 25. März war der nordöstliche Teil unter ein fünfstündiges Trommelfeuer aller Kaliber geraten. Anschließend waren 165 Anflüge sowjetischer Flugzeuge erfolgt, die zunächst Bomben und danach Phosphorkanister abgeworfen hatten, die Flächenbrände auslösten. Unter den Fliegerbomben befanden sich erbeutete deutsche, was an 10-Zentner-Blindgängern festgestellt wurde. In der Nacht vom 25.3. zum 26.3. hatte ein Bombenvolltreffer in das dritte Feld die Straßenbrücke über die Oder zum zweiten Mal unterbrochen. Deutsche Flieger traten kaum noch in Erscheinung. Selten flogen welche an und versuchten im Tiefflug, Nachschubcontainer ins Ziel zu werfen. Der 26. März brachte der Altstadt noch stärkeren Beschuß. Sechsmal wurde er durch Angriffe aus der Luft unterbrochen. Eine kleine Brandbombe setzte Kartuschen eines Stielgranaten-Lagers in Brand, das eine Explosion auslöste, wodurch die Odermalzfabrik auf der Insel in Brand geriet und ausbrannte. In dem Flammenmeer verbrannten lebendigen Leibes etwa 20 Offiziere und Mannschaften. Am 27.3. forcierten gegen 3 Uhr Einheiten der 416. Schützen-Division die Warthe und setzten sich auf dem Gorin fest. Am Morgen stürmten die Russen erneut, und diesmal endgültig, den Bienenhof - den letzten der vorgeschobenen Stützpunkte Küstrins. Sie nahmen auch den Bahnhof Kietzerbusch, erreichten den Südostrand der Altstadt, wurden aber noch einmal auf die Straßen- und Eisenbahngabelungen zurückgeworfen. Dabei war auch der letzte fest eingebaute Pantherturm ausgefallen. [69]

Ausgangs des 27.3. hielten die deutschen Verteidiger noch Kuhbrücken-Vorstadt, einen schmalen Geländestreifen westlich des Vorflutkanals (mit der Lünette D) bis zum kleinen Brückenkopf vor der Eisenbahn- und der zerstörten Straßenbrücke, die Insel mit dem Mittelhöfel und dem größten Teil des Gorins, sowie zwischen Oder und Warthe die Altstadt. 1945 gab es wohl keine Stadt in Ostdeutschland, die so lange und so intensiv unter Beschuß und Bombardements geriet und so oft brannte, wie die kleine Küstriner Altstadt. 1.400 mal 700 Meter betrug ihre größte Ausdehnung. Sie bestand Ende März 1945 fast nur noch aus zerschossenen und ausgebrannten Gebäuden sowie den Befestigungen vergangener Jahrhunderte. Wo die Haus-an-Haus-Bebauung es zuließ, entstanden durch Kellerdurchbrüche Wege unter der Oberfläche, bis schwere Volltreffer sie vorübergehend wieder unterbrachen. Und es existierte Leben in dieser Stätte der Zerstörung und des Sterbens. In den Kellern und Kasematten vegetierten Soldaten, bis Befehle oder Alarmrufe sie herausriefen. Sie warteten darauf, den Angreifern entgegentreten zu müssen, wobei von Tag zu Tag ihre Erkenntnis wuchs, doch der Übermacht der Russen zu erliegen, wenn keine Hilfe von außen kam. Und wer auch daran nicht mehr glaubte, der hoffte auf den Befehl zum Ausbruch. Der Hauptverbandsplatz befand sich in den Kellern der Artillerie-Kaserne. Rund um die Uhr bemühten sich hier die Ärzte um die Notversorgung der täglich mehr anfallenden Verwundeten. Die Chirurgen waren total übermüdet. Nur die dringendsten Fälle konnten noch operiert werden. Das traf auch auf das Schwerverwundetenlazarett im Keller der Schloßkaserne zu. Und das Hilfslazarett in der Knaben-Mittelschule besaß nur noch einen Arzt mit wenigen Pflegekräften für kampfunfähige Verwundete, doch ohne die Notwendigkeit einer sofortigen Operation. [70]

Für den Generalangriff auf die Altstadt setzte die 8. Garde-Armee die 82. Garde-Schützen-Division auf dem Ostufer der Oder an. Auf der Altstädter Insel sollte ein Regiment der 35. Garde-Schützen-Division den Bereich Artillerie-Kaserne - Bahnhof Altstadt - Oderablage stürmen. Dazu setzte es in der Nacht zum 28.3. auf den Mittelhöfel über. Auf Kuhbrücken-Vorstadt war das 1373. Regiment der 416. Schützen-Division angesetzt und gegen die sich westlich des Vorflutkanals noch haltenden deutschen Einheiten zwei weitere Regimenter der 35. Garde-Schützen-Division. Zum Schießen in direktem Richten bezogen je eine Batterie schwerer 203-mm-Haubitzen Stellung am linken Oderdamm bei Kietz, am rechten Oderdamm südlich der Altstadt und bei Säpzig. Für den 28.3. war eine ganztägige Beschießung durch Artillerie geplant, unterstützt von rollenden Angriffen aus der Luft. Am Vormittag des folgenden Tages sollte nach einer erneuten starken Feuervorbereitung die Erstürmung der Altstadt beginnen, wobei parallel dazu mit der Einnahme der Altstädter Insel und des westlichen Vorflutkanalufers gerechnet wurde. Doch der tatsächliche Ablauf gestaltete sich etwas anders. [71]

Fast wäre am 28.3. Generaloberst Tschuikow, der OB der 8. Garde-Armee und während des zweiten Großangriffs Verantwortliche für die Niederkämpfung des Küstriner Kessels, deutschem Granatfeuer zum Opfer gefallen. Als er Angriffsvorbereitungen kontrollierte, fielen er und seine Begleitung an einem Wasserturm nordwestlich Säpzig deutschen Artillerie-Beobachtern auf und geriet in den von ihnen ausgelösten gut gezielten Beschuß. Die Russen büßten dabei einen Toten und einen Verwundeten ein. [72]

Am Vormittag des 28.3. begannen Fliegerverbände und Batterien das verstärkte Bombardement der Küstriner Altstadt. Erneut entwickelten sich Flächenbrände. Die bereits verwüstete Altstadt verwandelte sich endgültig in ein Trümmerfeld. Aber sie wehrte sich auch. Unweit der Knaben-Mittelschule heulten an diesem, wie auch schon am Vortage in regelmäßigen Abständen "Stukas zu Fuß" auf und jagten ihre großkalibrigen Geschosse den Russen entgegen. In einigen unzerstört gebliebenen Kellern funktionierte noch der Radioempfang. Während die Gebäude unter den Detonationen zitterten, meldete mittags der tägliche Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht lakonisch: ,,Die tapfere Besatzung der Festung Küstrin schlug fortgesetzte Angriffe des Gegners ab." Entgegen der ursprünglichen Absicht stürmten Truppen der 8. Garde-Armee bereits am Nachmittag des 28.3. von der Sonnenburger Chaussee her das Kietzer Tor und kämpften sich bis zum reichlich 200 Meter entfernten Marktplatz vor. Etwas später standen ihre Angriffsspitzen unweit des teilweise brennenden Schlosses. Weitere Rotarmisten erreichten von Nordosten her das Amtsgericht und den Marktplatz. Schützen der 5. Stoß-Armee drückten auf dem Gorin in Richtung Oder. Kurz vor Einbruch der Dämmerung erfolgte mit greifbaren Kräften und Unterstützung eines "Hetzers" ein verzweifelter deutscher Gegenstoß, der die gegnerischen Sturmgruppen aufhielt und teilweise wieder zurückwarf. Erst die Dunkelheit beendete das Inferno. [73]

Auch westlich der Oder hatte der 28.3. zu schweren Kämpfen geführt. Auf dem Mittelhöfel entbrannten Gefechte am Pappelhorst und um die Lünette dort. Am Abend saßen Russen im alten Befestigungswerk, und sowjetische Infanterie lag zwischen diesem und der Artillerie-Kaserne. ,,Bataillonsstarke, von Panzern unterstützte Angriffe aus Kietz und Neu Bleyen führten zu mehreren tiefen Einbrüchen, die in wechselvollen Kämpfen nicht beseitigt werden konnten", meldete am Abend der Festungskommandant dem AOK 9. Und weiter: ,,Infolge der hohen Ausfälle an Menschen und Material (70 Prozent der Offiziere und sämtliche schweren Waffen) geht der Kampf in der Festung seinem Ende entgegen." Für den Abend des 28. März hatte SS-Gruppenführer Reinefarth die Aufgabe der Altstadt befohlen. Dementsprechend informierte gegen Mittag der Kampfkommandant Altstadt, Major Kulla, den Führer des Volkssturms, Hauptmann der Reserve Tamm, (und vermutlich auch weitere Kommandeure) daß am Abend geräumt würde und der Volkssturm als Nachhut den letzten Fluchtweg, die Eisenbahnbrücke über die Oder, verteidigen müsse. [74]

Das Absetzen aus der Altstadt, die nicht mehr zu halten war, war schlecht organisiert und verlief chaotisch. Am Nachmittag setzte der Exodus langsam ein und nahm zum Abend stetig zu. Es gab keine abgestimmten Befehle. Manchmal erreichten sie die vordersten Sicherungsketten, Gruppen und größere Einheiten nicht oder nicht eindeutig, und die Betroffenen fühlten sich alleingelassen. Freund und Feund wünschten die Dunkelheit herbei, die Ruhe brachte. Als sich eine Gruppe Ofenrohr- und Panzerfaust-Schützen, die gegen Angriffe aus Richtung Kietzer Tor zur Sicherung der Schloßzugänge in den Gräben an den rauchenden Ruinen des Marktplatzes eingesetzt waren, verlassen vorkam, fand sie bei der Suche ein fast leeres Schloß, mit Ausnahme des Lazarettes im Keller, wo die Schwerverwundeten im Tagesverlauf Eierhandgranaten zur Selbsttötung erhalten hatten. Im Hilfslazarett der Mittelschule hieß es nach Einbruch der Dunkelheit: ,,Die Altstadt wird geräumt!" Die gehfähigen Verwundeten schickte man zu ihren Einheiten zurück oder wenigstens auf das linke Oderufer. Die Sprengung der Eisenbahnbrücke, der letzten intakten Oderbrücke, erfolgte aus Nervosität und fehlendem Mut zu zeitig. Außerdem riß sie noch darauf befindliche Flüchtende in den Tod. Ein bewußteres Handeln von wenigen Offizieren mit einer disziplinierten Truppe hätte die Brücke länger offenhalten und mehr Gehfähigen den Rückzug auf das linke Oderufer ermöglichen können. Eine mangelhafte deutsche Führung war dazu nicht in der Lage. Danach gelang es nur noch einem kleinen

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Teil der am Ostufer Verbliebenen, den Strom mit Booten, Schlauchbooten oder kletternd und schwimmend zu überqueren. Denn die inzwischen zum Oderufer vorgestoßenen Russen beschossen alle sichtbaren Ziele auf dem Strom. Zurückgeblieben war auch das zusammengeschmolzene Volkssturm-Bataillon Tamm. Als sein Rückzug doch noch erlaubt wurde, war es zu spät; die Brücke gesprengt und die reservierten Schlauchboote von anderen genutzt. Sein Führer, Hauptmann d. R. Gustav Rudolf Tamm, beriet sich daraufhin mit seinen Männern und kapitulierte in den ersten Stunden des 29. März. Davon wußten nur die Angehörigen seines Bataillons, oder wer sich bei diesem zufällig aufhielt. Die Übrigen erwarteten den kommenden Morgen und die Sieger beklommenen Herzens. Vereinzelte, die noch Widerstand leisteten, verloren ihr Leben. Auch wer sich ergab, war dessen nicht immer sicher. Soldatinnen erschlugen oder erschossen vor der Eisenbahnbrücke 17 von 28 waffenlosen Männern der Waffen-SS. General Tschuikow schrieb in seinen Memoiren, daß die Altstadt gestürmt worden sei. Nach dem Luftbombardement wäre ab 10 Uhr ein 40-minütiger Beschuß durch die gesamte sowjetische Artillerie erfolgt, und ab 10.30 Uhr hätte die Anlandung der 82. Garde-Schützen-Division begonnen. Mittag habe die rote Fahne über den Festungsanlagen geweht. Kurz danach habe er Marschall Shukow den Erfolg melden können und daß allein das Regiment Plekin 1.760 Gefangene gemacht hätte. [75]

SS-Gruppenführer Reinefarth hatte seinen Gefechtsstand noch am Abend des 28.3. auf das linke Oderufer in einen Keller der Artillerie-Kaserne verlegt. Ihm schloß sich der Bürgermeister von Küstrin und NSDAP-Kreisleiter, Körner, an. Weil dieser in der Kaserne kein Unterkommen fand, zog er mit seiner Gruppe nach Kuhbrücken-Vorstadt, wo der Kreisstab mit in Stellung ging und sich eingrub. Die noch nicht zerstörten Keller der Artillerie-Kaserne beherbergten jetzt die Gefechtsstände des Festungskommandanten und des Abschnittskommandanten Major Wegner, den Hauptverbandsplatz und viele Verwundete. Soldaten suchten hier Schutz vor sowjetischem Beschuß aus Infanteriewaffen, der Artillerie und aus der Luft. Die aus der Altstadt Geflüchteten mußten neu geordnet und eingewiesen werden. Das Durcheinander nutzten viele für Drückebergerei. Vom Mittelhöfel her griffen Rotarmisten die letzte Grabenstellung vor den Kasernen an. Gegenstöße warfen den Gegner nur vorübergehend zurück. In der Nacht vom 28.3. zum 29.3. versuchte ein Stoßtrupp die Rückgewinnung der alten Lünette am Pappelhorst. Das Unternehmen schlug fehl. Der deutsche Stoßtrupp wurde aufgerieben. [76]

Am Gründonnerstag, den 29.3., verstärkten die Truppen der 8. Garde- und der 5. Stoß-Armee ihre Anstrengungen, auch die links der Oder verteidigenden Teile der Festungsbesatzung zu zerschlagen. Das führte zu schweren Kämpfen, ließ die Angreifer aber noch nicht das angestrebte Ziel erreichen. Die Russen nahmen die letzten deutschen Stellungen unter stundenlangen Beschuß, der von deutscher Seite nicht mehr erwidert werden konnte. Im Laufe des Tages erreichte die Belastbarkeit der Verteidiger ihre Grenzen. Im Bereich der Artillerie-Kaserne trat sowjetische Infanterie aus dem Pappelhorst fünfmal zum Angriff an. Viermal wurde sie aufgefangen und im sofortigen Gegenstoß zurückgeworfen. Der letzte Sturmangriff am Nachmittag ließ sie zum Kasernenkomplex durchbrechen. Ein Teil der Kasernen brannte. Mangels Gerät, und durch das Feindfeuer bedingt, ließen sich die Brände nicht mehr löschen. In den Kellern bemühten sich Ärzte und Sanitäter um die Verwundeten, sofern diese die Lazarettkeller erreichten. Gestorbene konnten nicht mehr ins Freie verbracht und beerdigt werden. Immer wieder durchkämmten Offiziere die Keller nach Zuflucht suchenden aber noch kampffähigen Soldaten und versuchten, sie wieder in die Reihe der Kämpfenden einzureihen. Teilweise unter Androhung von Waffengewalt mit gezogener Pistole. Meistens mit geringem Erfolg. Hier zeigten sich erste Auflösungserscheinungen der Verteidiger. [77]

Als die Sicherung überlebenswichtiger Stellungsabschnitte manchmal der Führung zu entgleiten schien, retteten erfahrene Soldaten die Lage. Am 29.3. fanden sich ohne Befehl zwei Wachtmeister, zwei Unteroffiziere und drei Obergefreite auf der Inselseite der Straßenbrücke nach Kietz gerade noch rechtzeitig ein, um einer gegnerischen Einheit, die sich am Damm des Vorflutkanals von der alten Lünette zur Straßenbrücke nach Kietz und der dahinter liegenden Eisenbahnbrücke vorarbeitete, den Weg zu verlegen, ihr starke Verluste zuzufügen und wieder zurückzuwerfen. [78]

Parallel zum Endkampf in Küstrin stellte der Chef des Generalstabs der 9. Armee um 12.45 Uhr beim I a der Heeresgruppe Weichsel telefonisch den Antrag, der Festungsbesatzung den sofortigen Ausbruch zu genehmigen, weil diese sonst verloren sei. Um 12.55 Uhr erfolgte die Antragstellung beim Chef der Operationsabteilung des Heeres. Die endgültige Entscheidung traf Adolf Hitler. Seine Ablehnung lautete: ,,Festung ist unter allen Umständen zu halten. Luftversorgung ist durchzuführen." Drei Stunden nach der Antragstellung erreichte die Antwort den Festungskommandanten in Küstrin. [79]

Unter dem Feuerschutz ihrer schweren und Infanteriewaffen landeten Rotarmisten nördlich des Bahnhofs Küstrin-Altstadt, der auf der Insel lag. Ein Gegenstoß vernichtete die feindliche Landungsgruppe. Aus dem Raum Vorflutkanalbrücken - Lünette D meldeten die Verteidiger über Funk die Abwehr eines Feindangriffs aus Kietz. Kuhbrücken-Vorstadt erlebte am Nachmittag seinen dramatischen Höhepunkt. Nach stundenlanger Feuervorbereitung traten sowohl aus Richtung Neu Bleyen als auch von Westen her Truppen der 416. Schützen- und der 35. Garde-Schützen-Division zum Angriff an. Sie brachen in die deutsche Stellung ein. Die Verteidiger wankten. Doch dann kam es zu einem erbitterten Nahkampf. Dabei wurde auf deutscher Seite die Munition knapp. In diesen Minuten forderte der in Kuhbrücken eingesetzte deutsche vorgeschobene Beobachter das Feuer der etwa 20 Kilometer entfernt im Raum Seelow stehenden schweren Artillerie an, die sich um ungefähr 100 Meter verschoß. Nacheinander orgelten die schweren Granaten heran, schlugen auf deutscher Seite ein und detonierten nicht. Es waren sämtlichst Blindgänger! Ein Melder des zuständigen Kommandeurs forderte die Verteidiger auf, bis zur Dunkelheit noch durchzuhalten, dann käme die Rettung! Schließlich gelang es Angehörigen der Waffen-SS, den Resten des Füsilier-Bataillons 303 und des II. Bataillons des Panzer-Grenadier-Regiments 1 sowie Volkssturmmännern mit dem NSDAP-Kreisleiter, die Angreifer wieder über die Oderdammstraße zurückzuwerfen, stellenweise nur auf die andere Dammseite. Danach trat Ruhe ein. Mitunter trennte lediglich die Breite der Dammstraße, das heißt, etwa 10 Meter, Verteidiger und Angreifer. Offiziere und ein Arzt überprüften in den wenigen Kellern die Verwundeten, ob sie noch eine Waffe halten konnten, und nahmen die Kampffähigen mit. Am Nachmittag des 29.3. wußte jeder in Kuhbrücken-Vorstadt, daß das der letzte deutsche Abwehrerfolg gewesen war. Um 15.44 Uhr, als hier der blutige Nahkampf tobte, quittierte in der Artillerie-Kaserne der Festungskommandant, SS-Gruppenführer Reinefarth, einen ,,Führer-Befehl zum Weiterkämpfen", der angesichts der verzweifelten Lage ein Befehl zum Sterben war. [80]

Am Abend fand eine Kommandeursbesprechung beim Festungskommandanten statt. Die Offiziere erklärten übereinstimmend, daß aufgrund der hohen Verluste, fehlender schwerer Waffen und Munition sowie des Erschöpfungszustandes der Truppe der nächste russische Angriff nicht mehr abzuwehren sei. Gruppenführer Reinefarth verwies auf den letzten Führerbefehl vom Nachmittag, der die Aufgabe Küstrins untersage. Er sähe jedoch die Unmöglichkeit weiteren Widerstandes ein. Weil ihm der Ausbruch der Restbesatzung verboten sei, stelle er den Kommandeuren frei, nach eigenem Ermessen zu handeln. Allerdings müsse ein gemeinsamer Zeitpunkt für den Ausbruch festgelegt werden. Anschließend erfolgte in einer weiteren Besprechung die Festlegung von Ort, Zeitpunkt, Bereitstellung und taktischem Vorgehen. Vermutlich wurde dabei der Zeitpunkt der Sprengung der Eisenbahnbrücke über den Oder-Vorflutkanal auf den ersten zu hörenden Kampflärm der Ausbrechenden terminiert. Eine Festlegung mit fatalen Folgen! [81]

Gegen 23 Uhr erschien der Festungskommandant mit Begleitung in Kuhbrücken-Vorstadt. Zuvor hatten die Festungsfunker den letzten Funkspruch abgesetzt:

,,Feind steht vor Artillerie-Kaserne.
Insel nicht mehr zu halten. Greife westlich Oder an.
Zur Zeit keine Verbindung."

Der Inhalt dieses Funkspruchs diente allein der Rechtfertigung SS-Gruppenführer Reinefarths vor einer erwarteten kriegsgerichtlichen Untersuchung, informierte aber nicht das an der HKL befehlsführende Generalkommando XXXIX. Panzer-Korps über Durchbruchsabsicht, -abschnitt und -zeit. Das hatte zur Folge, daß die Ausbrechenden vor der eigenen HKL zunächst als Russen angesehen und unter heftigen deutschen Beschuß gerieten, der nicht ohne Verluste blieb. Der Ausbruch war schlecht organisiert. Die Eisenbahnbrücke über den Oder-Vorflutkanal wurde zu zeitig gesprengt und löste ein verheerendes sowjetisches Granatwerferfeuer aus. Die größere, nördliche Gruppe der Ausbrechenden erreichte von der Wegespinne in Kuhbrücken-Vorstadt aus - dabei das Gut Alt Bleyen und die Schäferei südlich passierend - im Raum nördlich Golzow die deutschen Linien. Unter den etwa 1.000 Durchgebrochenen befanden sich der Festungskommandant und der NSDAP-Kreisleiter. Die südliche Gruppe mußte an der Kaiserallee sechs oder siebenmal angreifen, bis der Einschließungsring zerriß. Sie ließ das Gut Alt Bleyen nördlich und die Schäferei und den Tannenhof südlich liegen und erreichte mit rund 300 Personen südlich des Wilhelminenhofes die eigene HKL. Die übrigen Teilnehmer fielen, gerieten Karfreitagvormittag in Gefangenschaft oder wurden von den Rotarmisten einfach niedergeschossen. Am Morgen des 30. März besetzte die Rote Armee die letzten Teile Küstrins: Die Altstädter Insel und den schmalen Landstreifen westlich des Oder-Vorflutkanals von den Kietzer Brücken über die Lünette bis nach Kuhbrücken-Vorstadt. Dabei nahm sie zahlreiche verwundete oder beim Ausbruch zurückgebliebene deutsche Soldaten gefangen. Die vermutlich letzten deutschen Gefangenen wurden am 31.3. mittags eingebracht: Ein Obergefreiter und ein ROB-Gefreiter, der Autor dieses Buches, beide verwundet, in der Nähe des Tannenhofs. Sie hatten sich am Vortage, totstellend, auf einer kleinen Sandbank im Oder-Vorflutkanal verborgen. [82]

Die Auseinandersetzungen der zweiten deutschen Ausbruchsgruppe mit den Rotarmisten hatten in der Nacht vom 29. zum 30.3. eine kaum vorstellbare Härte erreicht. Der sowjetische General Bokow zitierte hierzu einen hochdekorierten Starschina: ,,Unser Zug drang in eine gegnerische Stellung ein und kämpfte nachts vor dessen Graben, der an einem der Dämme entlangführte. Uns trennten nur fünfzehn bis zwanzig Meter. Als die Faschisten zum Gegenangriff übergingen, versuchten sie unseren Zug zu umgehen. Wir schwenkten ein und warfen sie in ihren Schützengraben zurück. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft sie sich auf uns stürzten, aber das Gefecht wogte die ganze Nacht hindurch. Es war eine mondlose Nacht, und der Gegner konnte sich in der Dunkelheit unbemerkt bis auf sieben Meter an uns heranschleichen. Erst da bemerkten wir ihn. Die Faschisten waren nur an den Stahlhelmen von den unseren zu unterscheiden. Gegen Morgen, als wir den letzten Gegenangriff zurückgeschlagen hatten, drangen wir in den Schützengraben ein. Ich hatte bereits bei Leningrad, am Dnestr und der Weichsel gefochten, doch der Nahkampf, der an diesem Damm entbrannte, stellte alles Bisherige in den Schatten. Ich mußte mehrmals meine Handgranaten wie einen Hammer gebrauchen. Die Faschisten nutzten jede Deckung und sprangen mich von hinten an. Einer versuchte, mich zu erwürgen. Endlich begann es zu dämmern. Die Schüsse verstummten. Als wir auf den Damm stiegen, standen Deutsche mit erhobenen Händen und weißen Fahnen vor uns. Vergeblich hatten sie versucht, aus dem Ring bei Küstrin auszubrechen." [83]

Die 1. Belorussische Front hatte einen wichtigen Erfolg errungen. Der Verkehrsknotenpunkt Küstrin war freigekämpft, die Brückenköpfe der 5. Stoß- und der 8. Garde-Armee waren vereinigt und die vorgeschobene deutsche Bastion auf dem rechten Oderufer zerschlagen worden. Das sowjetische Hauptquartier würdigte das mit einem weiteren Dankbefehl und ließ in Moskau erneut Ehrensalut schießen. Am nächsten Tag berichteten internationale Zeitungen darüber mit Schlagzeilen wie ,,Großer russischer Sieg" und ,,Starke deutsche Festung Küstrin erobert". Die Schlacht um Berlin konnte beginnen.

Küstrin lag in Trümmern. Die Zerstörungsrate in der Neustadt betrug 92 Prozent, in der Altstadt (ohne Insel) 100 Prozent und in Kietz 98 Prozent. Die personellen Verluste (ohne Zivilisten, Dienstverpflichtete und Fremdarbeiter) beliefen sich im Kampfraum Küstrin - einschließlich Schlauchstellung und HKL - auf deutscher Seite auf rund 5.500 Gefallene, knapp 10.000 in das Hinterland transportierte Verwundete und fast 6.000 meist verwundete Gefangene. Davon entfielen auf den Festungsbereich allein 53 % der Toten, 31 % ausgefahrene Verwundete und 71 % der Gefangenen. (Diese Zahlen beinhalten nicht 500 bis 600 Zivilisten, die bei der Erstürmung der Neustadt in russische Gewalt gerieten.) Viele Verwundete wurden mehr als einmal verwundet. Die Ausfälle der Roten Armee sind mit 6.000 Gefallenen und 12.000 Verwundeten anzunehmen. Bei der Belagerung und der Erstürmung Küstrins sowie dem Kampf um die Schlauchstellung (einschließlich ihrer Verwurzelung in die HKL) verloren die sowjetischen Truppen zwischen dem Garmischberg und Sachsendorf über 290 Panzer und Sturmgeschütze sowie mindestens 40 Flugzeuge. (Diese Zahlen beinhalten nicht die Abschüsse der Kämpfe in den Räumen Garmischberg - Henriettenhof und Reitwein - Rathstock - Hathenow von Anfang Februar bis Mitte März.) Nicht bekannt sind die Verluste der Wehrmacht an Waffen und Gerät. [84]

Die Nichtverwundeten unter den Ausgebrochenen kamen zumeist in die Mars-la-Tour-Kaserne nach Fürstenwalde. Obwohl innerlich ausgebrannt, wurden sie in den Folgetagen notdürftig auf den nächsten Einsatz vorbereitet. Die Offiziere unter ihnen wurden formell unter Bewachung gestellt und mußten zunächst noch kriegsgerichtliche Vernehmungen über sich ergehen lassen mit manchmal rüden und unsinnigen Vorwürfen. Gegen den unter persönliche Bewachung gestellten Festungskommandanten SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Heinz Reinefarth sollte auf Befehl Hitlers eine kriegsgerichtliche Untersuchung eingeleitet werden, weil er nicht den letzten Befehl des Führers befolgt hatte, obwohl sein Handeln der Lehre von Clausewitz entsprach. Sie verlief im Sande, weil sie die Ereignisse bis zur deutschen Kapitulation überholten. [85]

Noch 1945 errichtete die siegreiche Rote Armee auf Befehl Marschall Shukows auf der Bastion König der ehemaligen Küstriner Festung ein Ehrenmal. Es war das östlichste von dreien (Küstrin, Seelow, Berlin-Tiergarten), die an den Siegeszug der 1. Belorussischen Front längs der ehemaligen Reichsstraße 1 erinnern sollen.

Der Zweite Weltkrieg machte Küstrin zu einer der meist zerstörtesten Städte Deutschlands und durch die neue Grenzziehung mit Ausnahme von Kietz, Kuhbrücken-Vorstadt und der Altstädter Oderinsel zu einer polnischen Stadt. Wegen der furchtbaren Kriegszerstörungen bezeichneten die Polen die Küstriner Altstadt anfangs als polnisches >Hiroschima<, und deutsche Zeitungen ein halbes Jahrhundert danach als >brandenburgisches Troja< oder das >Pompeji des 20. Jahrhunderts<. [86]