Wenn ich meinen Enkelkindern etwas aus meiner Kindheit erzähle, bin ich oft erstaunt, wie interessiert sie sich die alten Geschichten anhören. Sechzig Jahre sind doch eine lange Zeit und was hat sich seit dem nicht alles verändert?

In der Küstriner Altstadt konnte meine Mutter noch ihrer Nachbarin gegenüber in den Suppentopf schauen und sehen, ob bei der Weißkohl mit Kümmel oder Wrucken (Kohlrüben) mit Majoran auf dem Tische standen. So eng und schmal waren die Gassen und Hinterhöfe. Jeder teilte Freud und Leid mit dem anderen. So richtig glauben konnten meine Enkelkinder das wohl erst, als ich mit ihnen die freigelegten Gassen der Altstadt besichtigte.

Unsere Lieblingsspiele damals in den engen Straßen waren Treibeball und "Eckenkieker, von wo kimmste?" Die Hinterhöfe und Durchgänge von Straße zu Straße waren uns vertraut wie unsere eigene Hosentasche. Da machte das Versteckspiel besonders großen Spaß. Nur Fußgänger und selten ein Pferdefuhrwerk belebten die Straßen, so daß wir ungestört spielen konnten.

über das Dach unseres Hauses - das höchste in der Umgebung - liefen die Telefonleitungen zum Rathaus und von dort zur Post. Das Summen der Drähte klingt noch heute in meinen Ohren. In der Dachstube wohnte Herr Könning, ein Straßenhändler, der bei uns Kindern sehr beliebt war. Ihm habe ich oft zugehört, wenn er von den Erlebnissen auf seinen überlandtouren berichtete. Dabei schaute ich aus seinem Dachfenster und sah den Schwalben zu, wie sie pfeilschnell jagten. Der Blick schweifte weit über die Dächer der Altstadt bis zur Oder, wo sich die Dampfschleppzüge mühsam stromauf quälten. Wenn Herr Könning mit der Bimmelbahn über Land fuhr, dann führte er ein eigenartiges Sortiment mit sich, u.a. Bücklinge, Schreibpapier, Hosenträger, Schnürsenkel und Druckknöpfe. An die Bücklinge erinnere ich mich deswegen so genau, weil er uns Kindern die angequetschten immer zum Verzehr schenkte.

An den Sonnabenden war Wochenmarkt. Ein ähnliches Schauspiel bieten noch heute die polnischen Wochenmärkte. Bauern, Gärtner und Fischer kamen damals aus allen Dörfern der Umgebung zum Marktplatz in der Altstadt. Wie oft haben wir da ihre Pferde gestreichelt; mußten aber auch zusehen, wenn eine Henne geköpft oder ein Fisch ausgenommen wurde. Jeder Bauer butterte damals selbst und bot die Butter in speziellen Formen an. Ehe meine Mutter ein Stück kaufte, hatte sie wohl vorher 5 Stücken mit der Nagelprobe (per Daumennagel ) auf Geschmack, Salz- und Wassergehalt geprüft. Wer jetzt die Nase rümpft, der sollte einmal den Fernseh-Köchen bei der Arbeit zuschauen, die nehmen auch lieber die Hand als Messer und Löffel. Wir hatten jedenfalls immer gute Butter auf dem Tisch.

Auch meine Tante aus Sonnenburg bot manchmal ihre Waren auf dem Markt an. Schon am frühen Morgen hatte sie sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht und die schwere Kiepe mit Butter, Eiern, Quark u.a.m. 14 km (!) auf ihrem Rücken getragen. Kann man das heute noch nachvollziehen? Und nur, wenn sie alles gut verkauft hatte, löste sie sich am Nachmittag ein Billet auf dem Kietzerbusch- Bahnhof und fuhr zufrieden mit der Bimmelbahn nach Hause. Später kam meine Tante übrigens per Rad zum Markt. Das war ein "Ewigtreter" (Fahrrad ohne Freilauf), auch Knochenbrecher genannt. Ich habe es nur einmal versucht, damit zu fahren, und hatte dann für immer die Nase gestrichen voll.

Rudi Vogt