…und die Zeit kurz danach

von MATTHIAS STENZEL
aufgeschrieben von Ralph Stenzel

Geboren wurde ich am 11. Januar 1933 im seit einigen Jahren zuvor städtisch gewordenen Krankenhaus in der Warnicker Straße in Küstrin-Neustadt. Angeblich, so wurde mir später erzählt, habe ich geholfen, meine Mutter wieder auf die Beine zu bekommen, indem ich ihr die vereiterte Brust frei säugte. Mein Vater Paul, Jahrgang 1889, war der älteste von 5 Geschwistern. Sein Vater führte eine Kneipe mit Pferdestall, dort übernachteten die Bauern, die auf die Berliner Märkte wollten, mit ihren Gespannen, und Opa machte abends Akkordeon-Musik für sie. Er starb schon vor dem 1. Weltkrieg. War das Lokal in der Landsberger oder in der Zorndorfer Straße? Oma lebte noch bis in die zwanziger Jahre in der Zorndorfer Straße (laut Einwohnermeldeverzeichnis).

Mein Vater ging auf die Mittelschule („Morgens in der Frühe musste ich im Winter in der Gaststube den Ofen anheizen, und ich brachte mir dabei das Billardspielen bei“.) 1905 hatte er mit einem Superzeugnis die „Mittlere Reife“. Die kaufmännische Lehre absolvierte er bei dem jüdischen Rechtsanwalt und Notar namens Arnholz, der damals in Küstrin renommierteste Jurist. Vater war bald Bürovorsteher und leitete in Küstrin den Stenographie-Verein. Im 1. Weltkrieg war er bei der Luftwaffe: Bodenpersonal. Alters- und inflationsbedingt ging der Betrieb wohl ein und Vater wechselte 1923 zur Niederlausitzer Bank Cottbus Filiale Küstrin. Direktor dort war Logenbruder Welz, Vater sein Stellvertreter und Prokurist – bis zum Untergang Küstrins 1945.

Meine Mutter Erna, geboren 1899, absolvierte die Mittlere Reife am Lyzeum Grünberg/Niederschlesien, wo sie geboren wurde. Sie lernte wie ihre Mutter gut das Klavierspiel, ihre Tante war private Musikschullehrerin. Aber so lange, wie ich lebe, kam Mutter nie mehr zu einem eigenen Flügel. Ihr Vater (geb. 1870) blieb auf Lehrlingswanderschaft in Grünberg hängen, stammte aus Halle/Saale. „Ich bin kein Sachse, komme nicht vom Königreich Sachsen, sondern aus der preußischen Provinz Sachsen“, belehrte mich Opa. Er starb 1943, musste also nicht mehr 1945 mit auf die Flucht.

Mutters mütterliche Vorfahren waren, da Protestanten, 1837 vor dem Bischof von Salzburg (katholisch) geflohen aus dem Tiroler Zillertal, und Preußens König Friedrich Wilhelm III. gewährte ihrem Treck Asyl im Riesengebirge, wo sie unter ihrem alten Tiroler Ortsnamen Gemeinden gründeten, so auch Erdmannsdorf. Meine Vorfahren zogen weiter, sie hießen Oblasser und gründeten in Grünberg eine Molkerei. Meine Mutter musste ein Verlöbnis nach der Inflation auflösen, weil der Mann meinte, als Gutsverwalter arbeitslos geworden, er könne nun keine Familie mehr gründen. Vater Paul lernte Mutter Erna kennen, als er wohl 1930 in Oberschreiberhau, zufällig gar nicht weit entfernt von Erdmannsdorf, urlaubte und sie, die dort in einem Heim für lungenkranke Kinder arbeitete, fand Gefallen an ihm. Aus der Riesengebirgsbekanntschaft entstand eine Ehe, und ich wurde gerade noch ein Kind der „Weimarer Republik“, knapp drei Wochen vor ihrem Ende. Stefanie Hirt, die Leiterin des Kinderheims, wurde meine Patentante. Nach 1945 wurde sie Präsidentin des „Paritätischen Wohlfahrtsverbandes“ der BRD, und als ich sie in West-Berlin in den 50er Jahren besuchte, zeigte sie mir ihr Bundesverdienstkreuz, das wurde damals noch selten verliehen.

Nun waren meine Eltern bestimmt keine Widerstandskämpfer, eher so Unpolitische mit gesundem Menschenverstand, den hatten in Deutschland ja wenige. Die Schwestern meiner Mutter stießen auf anderstickende Männer. Der eine trug am Hochzeitstag die Uniform vom RAD (Reichsarbeitsdienst), der andere war ein glühend fanatischer Antisemit, das war ideologisches Erbgut seiner Vorfahren, die nach den polnischen Teilungen vor 1800 als Elite-Preußen im von Preußen besetzten Teil Polens alle Polen aus den führenden Positionen verdrängt hatten. Meine Tante gebar ihrem Walter vier Kinder und kriegte dafür das hitlersche „Mutterkreuz“. Das waren mir alles liebe, nette Onkel und Tanten, keine echten Nazis, sie dachten halt national-konservativ, quasi kaisertreu, und aus diesem Holz waren meine Eltern beileibe nicht geschnitzt, und das bekam ich zu spüren. Welch ein Vorteil! Beweis: Siehe etliche Ereignisse, die ich in dieser meiner Kindheits-Biographie manu propria aufschreiben will. Seltsam: Vater schenkte mir von Kindesbeinen an ungebrochenes Vertrauen! Er war sich sicher, mir das Schweigen über gewisse Dinge so eingedrillt, eingebläut zu haben, dass ich nichts an Dritte davon verriet. Sein Risiko, sollte ich mich doch mal verplappern. Tat ich offensichtlich nicht, ich war ja folgsam – und eingeschworener Kumpel. Aus heutiger Sicht auch für mich unvorstellbar! Das Sein bestimmt das Bewusstsein, von klein auf passte man sich systembedingt an. Nie später kam das Gespräch auf, wen meine Eltern vor und bis 1933 gewählt haben. Als ich sprechen konnte, sollte ich zu den Leuten sagen: „Guten Morgen!“ „Guten Tag!“ und sie nicht mit erhobenem rechten Arm „Heil Hitler!“ grüßen. Vater später: „Wenn du mal zum „deutschen Gruß“ gezwungen wirst, dann lalle undeutlich: „Drei Liter“ oder laut: „Heil“ und hinterher leise: „du ihn“. Das gefiel mir: Gesinnung färbt ab! Eines hatte ich doch wie Hitler. Er trug wie ich das Kopfhaar links gescheitelt, soviel ich weiß…

Meine Eltern wohnten 1933 in der Weinbergstraße 1, gleich neben dem Hotel „Hohenzollern“, also da, wo, vom Stern kommend, die Weinbergstraße von der Landsberger Straße nach rechts abging, in etwa da, wo gegenüber bis heute die Feuerwache steht. In meinem Säuglingsalter zogen die Eltern um in die Warnicker Straße 12. So fangen meine Erinnerungen an:

Wie komme ich von der Weinberg- zur Warnicker Straße? Ich laufe in die Landsberger Straße und komme auf dem rechtseitigen Bürgersteig an der „Normaluhr“ vorbei zum Moltkeplatz. Dann gehe ich vom Moltkeplatz aus auf dem rechten Bürgersteig von Blumen-Kappich aus in die Warnicker Straße, überquere die Schiffbauer Straße. An der Ecke befindet sich eine Bäckerei. Es folgen etliche Handwerksbetriebe, z.B. der Holzpantoffel-Hersteller Papst. Gegenüber sehe ich die Krankenhausmauer. Dann kommt ein Frisör, ein Lebensmittelgeschäft, und dort, wo gegenüber der Krankenhauseingang ist, führt nur ein breiter Weg rechts ab: die Bromberger Straße. Woher hatte die Bromberger Straße ihren Namen? Im oder kurz nach Ende des 1. Weltkrieges wurden hier Baracken für verwundete Soldaten errichtet. Dann wurden dort

„Volksdeutsche“ aus dem Osten angesiedelt, die kamen aus dem Gebiet Bromberg. Wohl dann wurden die Baracken zu festen Häusern aus Holz und Beton.

Nach der Einfahrt in die Bromberger Straße stand an der Warnicker Straße ein riesengroßer Schuppen, scheunenähnlich, fest verschlossen, da tat sich nichts. Dann folgte ein kleiner Weg, angrenzend an den Handwerks-„Betrieb“ Heinrich, einst Tischlerei der Vorfahren Merker, jetzt Polsterei Heinrich, Warnicker Straße 10. Sie lag still; er war im Krieg.

Besagter Weg mündete nach der Scheune in die Bromberger Straße. In dieser war rechtsseitig Ödland, links folgte nach Heinrichs Gelände (Hof, Werkstatt, Garten) eine „Plättrolle“, also eine Wäsche-Bügelei. Dann folgte das große Wohnhaus Bromberger Straße 4, das wie die Scheune und Haus Warnicker Str. 10 zum Besitztum Merker gehörte.

Dann folgte Kielmanns Garten und dann ging nach links die Tamseler Straße ab. Geradeaus in Richtung Warthe kamen die Barackenhäuschen (Küstriner „Volksmund“ nannte die Häuschen immer noch so) für ärmere Leute, das waren 4 Reihen mit je 6 bzw. 5 Häuschen in Reihe. In der letzten Reihe wohnten in betonierten Häusern Eisenbahner. Der Tamseler Straße folgend konnte man zur Linken die Hinterfront der Häuser Warnicker Straße 11 – 16 sehen. Dazwischen waren wohl noch Schrebergärten. Kurz vor der Großgärtnerei Harnisch (zur Rechten) - auch heute noch ist dort eine Großgärtnerei angesiedelt; wiedererkennbar am schmiedeeisernen Tor - mündete die Bromberger Straße ein; sie hatte die Baracken umrundet und führte nun geradeaus zurück zur Warnicker Straße, erreichte sie dort, wo das sogenannte „Siechenhaus“ (Altenheim) stand. Die Bewohner der Bromberger Straße mussten bei Fliegeralarm über Harnisch/Altenheim über die Warnicker Straße in den Keller einer Ex-Brauerei. Die lag vor dem Milchgeschäft auf der linken Straßenseite.

Zurück zur Warnicker Straße 10: Das Grundstück Heinrich schloss mit einem ca. 2m breiten Weg von Hauswand zu Hauswand von Haus 11 ab. Dann konnte man hinten vom Hof 10 über einen Drahtzaun über die Müllkippe auf den Hof 11 klettern. Die Häuser 11-13 bildeten eine geschlossene dreigeschossige „Mietskaserne“.

Ich verbrachte die ersten 12 Jahre meines Lebens im 2. Stock des Hauses 12. Die Häuser 11 und 12 waren identisch aufgebaut. Der Zugang bestand nicht nur aus einer Haustür, sondern aus einem so breiten Haustor, dass das Pferdegespann mit dem Müllwagen glatt hindurchpasste. In dieser Durchfahrt erreichte man links und rechts je eine Erdgeschosswohnung, rechts ging es dann ins Treppenhaus, am Ende der Durchfahrt rechts ging es treppab in zwei Kellerwohnungen. Nun kam der Hof, gleich links führte eine Treppe zur Waschküche und zu den Kellern der Mieter. Gleich rechts war ein Gully für die Abwässer, die die Kellerbewohner eimerweise dort hintragen mussten – wo sie die Toilette hatten, weiß ich nicht. Beide Häuser hatten ihren eigenen Hof, getrennt durch einen Draht bezaunten großen Obstgarten der Eigentümerinnen Gorban, zwei Geschwister damals mittleren Alters. Der Garten war also unbetretbar für die Mieter und man konnte nicht von Hof 11 zu Hof 12 kommen. Die Höfe grenzten an die Hinterhäuser, die Höfe reichten über diese hinaus. Eine kurze Treppe am Ende der Hinterhäuser 11 und 12 führte ins Treppenhaus zu den Wohnungen. Dort standen auch die betonierten Müllkippen, in die aller Abfall und Unrat aus dem Haus hineinkam und also alle paar Monate vom Pferde-Müllwagen abgeholt wurde.

In Nr. 12 kamen zum Ende des Hofes hin drei Schuppen. Mittig im hinteren Hof stand ein mächtiger Walnussbaum, dann kam bald die Grenzmauer zum Grundstück Bromberger Straße 4. Ansonsten diente der Hof zum Wäschetrocknen und zum Spielen. An der Stelle des Nussbaums stand in Haus Nr. 11 eine Garage – keine Ahnung, wer damals Auto fuhr.

Vor den Häusern zum Bürgersteig war ein kleiner Rasenstrang, danach der Zaun, Haus 14 – kleiner – blieb 1945 stehen, auch gegenüber das Haus Domschalski, das erste Wohnhaus nach dem Ende der Krankenhausmauer. Nach Hausnummer 14 folgte die kleine evangelisch-lutherische Kapelle (war wohl Nr. 15), und im Wohnhaus Nr. 16, zerstört, befand sich unten u.a. eine Bäckerei und der Frisör Roßmann. Dieses Haus war das letzte vor der wiederkehrenden Bromberger Straße, hier fast so groß wie ein Platz. Dann folgte, wie beschrieben, in der Warnicker Straße das „Siechenhaus“. An beiden Seiten der Straße gab es Wohnhäuser und Kleinbetriebe, linksseitig auch Villen, z.B. die von Kartoffelmehlfabrikdirektor Kerkhoff, und schließlich die Pionier-Kaserne. Am 19.2.1945 – am Tag der Evakuierung – standen noch alle Gebäude. Mein Vater im „Feldpostbrief“: „Mein Pelzmantel im Luftschutzkeller ist geklaut.“ Eine Wohnung in Haus 11 war durch das Geschoss einer Stalinorgel zerstört. Danach bis Anfang März war alles zerstört – bis auf die drei Gebäude, Haus 14, Kapelle und das Haus gegenüber, welche auch heute noch leicht zu finden sind.

plan

Die Häuser 11, 12 und 13 bildeten ein Wand an Wand zusammengeschmiegtes Ensemble. Heute im polnischen Küstrin steht genau an dieser Stelle die katholische Kirche. Das Haupthaus in Nr. 12 hatte also zwei Wohnungen im Keller, zwei in Parterre und dann je zwei in den drei Stockwerken darüber. Das Hinterhaus, wie beschrieben über den großen Hof erreichbar, hatte auch drei Etagen, genau so gebaut war auch das Haus Nr. 11. Hinten im Hof von Nr. 12 gab es also die drei Stallungen, vielleicht einstens für Pferde. Einen dieser Schuppen nutzten meine Eltern als Rumpelkammer, Beil mit Hauklotz, Fahrräder, mein Dreirad waren da z.B. drin. Wir Stenzels hatten auch einen großen Keller und einen Abstellraum im Dachgeschoss. Wenn ich da als Kleinkind mit hin durfte, ging es zunächst durch die Wohnungstür beim Ehepaar Loh, dann in der Wohnung über den Flur zu unserer Dachkammer. Das fand ich toll! Da wurde die Wäsche zum Trocknen aufgehängt.

stenzel 009Im Krieg kam ich nicht mehr da hin, denn die Dachkammer wurde wegen Luftgefahr entrümpelt und verlor so ihren Nutzen. Im Treppenhaus hingen noch die Kandelaber der schon lange nicht mehr benutzten Gasbeleuchtung. Wir wohnten im zweiten Stock, und standest du vor der Wohnungstür, sahst du daneben rechts oben ein Fenster. Wieso denn das? Na, kamst du in die Wohnung, führte gleich rechts die erste Tür ins Bad mit WC, und dieser Raum hatte tatsächlich das Tageslicht zum Flur. Da gab es aber eine Entlüftungsanlage zum Hof hin: Niemals im Treppenhaus verspürte ich Toiletten-Gerüche! Das Fenster zum Flur sorgte für Tageslicht im Bad! Gebadet wurde in der großen Wanne sonnabends, das heiße Wasser kam über einen gasbeheizten Ofen. Vom langgestreckten Korridor führte die erste Tür gegenüber dem Bad ins sogenannte Herrenzimmer. Da war eine Sesselgarnitur, ein Bücherschrank, ein Schreibtisch, ein Kachelofen, und die vom Eingang her gegenüberliegende Tür führte zum weiträumigen Balkon hin, von dem aus man auf die Warnicker Straße blickte. Die nächste Tür rechts nach dem Bad führte vom Flur in die Küche und zur Speisekammer mit dem Gaze-Fenster.  Im Frühjahr nach Schneeschmelze sah man vom Küchenfenster aus bis zum Horizont nur Wasser, Wasser, Wasser, und man glaubte, wir seien am Meer, so intensiv hatte sich die Warthe über das weite Weideland breit gemacht.

Vorbei an meinem wuchtigen Spielzeugschrank zur Rechten endete der superlange Korridor an zwei schräg von ihm wegführenden Türen, rechts ging es ins elterliche Schlafzimmer, links ins Ess-, zugleich Wohnzimmer. Im Schlafzimmer stand ein Waschtisch, das war so eine Art Kommode mit einer großen Schüssel und Wasserkrug drauf, darüber ein Regal für Kamm und Zahnbürste und ein Spiegel. Das gebrauchte Wasser wurde im Eimer zur Toilette getragen. So machte man sich damals morgens frisch. Alle Mahlzeiten fanden immer im ehrwürdigen Wohnzimmer statt. Vater kam immer in der Mittagspause von der Bankfiliale zum Essen heim und hielt anschließend auf der Couch noch ein Halbstundenschläfchen.

Meine Eltern waren sehr großzügig. Ich durfte in der Wohnung herumtollen, wie ich wollte, denke ich heute jedenfalls. Wer durfte das silberne Tischkehrblech vom Wandhaken nehmen und mit dem ebenfalls silbernen Kehrbesen draufhauen, so dass es Dellen und Abdrücke auf dem Blech gab? Ich, denn so mit 5 Jahren Lebensalter imitierte ich den Radiosprecher: „Mit dem Gongschlag ist es 19 Uhr!“ Das Blech war mein Gong. Mein Vater hatte sich statt des üblichen „Volksempfängers“ ein „Blaupunkt“-Radiogerät mit Mittelwelle, Langwelle und Kurzwelle geleistet, und ich stellte tagsüber alle möglichen Sender ein und hörte z.B.: „Und nun klingt Danzig auf! Es spielt das Orchester Otto Dobrindt!“ Im Krieg hörte ich mal den Schweizer Sender „Radio Beromünster“. Das kriegte mein Vater mit, und er verbot es mir. Ein Kind, geboren 1933, fragte nicht so oft: Warum denn? Wenn ein glaubwürdiger Erwachsener etwas befahl, folgte man eben. Ich tat das auch, bis ich mit 10 Jahren Jungvolk-„Pimpf“ wurde. Darüber später! Mein Vater hatte sicher Angst vor dem Nazi-Erlass: Wer ausländische Sender einstellt und abhört, wird wegen Vaterlandsverrat streng bestraft. Das für mich Wertvollste am Radio waren die Wasserstandsmeldungen. Die kamen immer um 11 Uhr 10 beim Deutschlandsender. Als ich ab Ostern 1939 zur Schule ging, bekam ich ein Schreibpult, das stand gleich neben dem Radiotisch. Sobald ich schreiben konnte, führte ich genau Buch über die Wasserstände an den deutschen Flüssen und Orten. Rechnen musste ich auch, denn wenn ich wegen Fliegeralarm heute nicht in der Wohnung am Radio sein durfte, erfuhr ich morgen den Stand von heute, weil der Sprecher immer Plus und Minus gegenüber gestern ansagte. So brachte ich mir zur Grundschulzeit die Geographie nicht der ganzen Erde, aber Deutschlands selbst bei. Wie ich auf diese Idee überhaupt gekommen bin, weiß ich nicht. Wohl spielerischer Zufall. Als meine Mutter – da wurde ich vielleicht gerade 5 – bei „Tante Kunterbunt“ vom Kinderfunk des Reichssenders Berlin Geburtstagsgrüße für mich bestellte, was damals kundenfreundlich möglich war, ärgerte sich Mutter mehr als ich, denn die „Kunterbunt“ erwähnte mich gar nicht, vergaß mich einfach.

Geschlafen habe ich in meinem kleinen Zimmer, das zwischen Herren- und Esszimmer lag. Da war ein Fleck oben an der Tapete, und eine Besuchstante sagte: „Wer hat denn da ein Kotelett an die Wand geschmissen?“ Die Blickrichtung aus dem Fenster meines Zimmers war wie aus den Fenstern links neben mir im Herren- und rechts neben mir im Wohnzimmer die Warnicker Straße. Von Zimmer zu Zimmer gab es noch eine Tür, auch eine vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer. Also brauchte man, um in ein anderes Zimmer zu wollen, nie zurück zum Flur. Vom Schlafzimmerfenster aus sah man nur den Hof und das Hinterhaus von Nr. 11. Neben dem Fenster wuchs eine Wildweinrebe aus der Erde bis zu uns hinauf in den 2. Stock. Nur durch eine Brandmauer getrennt, grenzte das Schlafzimmer direkt an unser Hinterhaus. Jahrzehnte später erzählte mir meine Sandkastengespielin Inge, ich hätte damals aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster lauthals die Wasserstandsinformationen zum Hof hinausgerufen. Das ist mir nicht in Erinnerung. Wenn ein „Leierkastenmann“ mit seiner Drehorgel im Hof Musik machte, durfte ich einen Groschen (10 Pfennig) in Zeitungspapier einwickeln und aus dem Fenster runterwerfen zum „Musiker“. Andere Mieter taten das auch. Wenn ich Lust hatte, durfte ich aus Mutters Kleiderschrank die schönsten Kleider, Röcke, Blusen, Pullover entnehmen, mich verkleiden und die Mutter, so gut ich konnte, nachäffen. Das geschah abends, und meine Eltern amüsierten sich köstlich ob meiner schauspielerischen Talente.

Um sich ein Bild von der Größe der Wohnräume und der Höhe der Zimmerdecken zu machen: Mein Vater hatte oben on den Türrahmen zwischen Schlaf- und Esszimmer zwei dicke Haken geschraubt und daran eine Schaukel angebracht, so groß, wie man sie heute draußen im Garten für die Kinder errichtet. Im großen Miethaus konnte ja niemand außerhalb seines Wohnbereichs etwas bauen. Im Hof standen Pfähle, an denen Leinen zum Wäschetrocknen jeder Mieter anbringen durfte. Ich also in der Wohnung schwang mich hin und her, rauf und runter, bis hoch über die Betten der Eltern einerseits, bis hoch über den Esszimmertisch andererseits. Die Zimmer hatten demnach damals wohl 3m Höhe und 6m Länge.

Im besagten Spielzeugschrank im Flur befand sich ein (geerbter) Stabilbaukasten, da konnte man Brücken, Häuser, Kräne, Maschinen aus Stahlteilchen schrauben, montieren. Dann war da eine gewaltige Burg mit hölzerner Kanone, aus der man echt mit Bolzen – das waren kurze Holzstifte – auf alles Mögliche schießen konnte. Ich schoss nicht auf die vielen Zinnsoldaten, die ich natürlich auch hatte. Die baute ich zu Marschkolonnen auf im Flur, sie trugen geschultert Gewehre, und wenn im Spiel einem das Gewehr abbrach, erklärte ich ihn zum Unteroffizier, er durfte nun die Kolonne anführen, rechts neben der ersten Reihe der Kompanie marschierend. Ich ahmte da wohl ein werktägliches Szenarium nach, das so ablief: Noch im Nachthemd stieg der Vierjährige im Wohnzimmer aufs Stühlchen am Fenster und beobachtete die Pioniereinheiten, die von der Kaserne kommend im Morgengrauen die Warnicker Straße zum Exerzierplatz hin bei uns vorbeimarschierten. Dazu mussten sie ihre vielen Lieder singen, die ich mir – altersgemäß – gut einprägte und in Text und Melodie aus dem Kopf reproduzieren konnte. Aber wie das in dem Alter so ist: Man fasst alles auf und behält es mechanisch auswendig, jedoch versteht man nicht den Sinn des Nachgeplapperten. Ich war auch kein Wer-, Was-, Warum-Frager. Sangen die Landser zum Beispiel: „Argonnerwald um Mitternacht, ein Pionier stand auf der Wacht“, „Und mit dem Spaten in der Hand er vorne in der Sappe stand“, so wusste ich gar nichts von Argonnen, 1. Weltkrieg, Verdun – und was kann wohl eine Sappe sein?

Natürlich stand auch ein Eisenbahnzug aus Holz im Spielschrank – aber ohne Schienen. Da spielte ich im Flur lieber mit den leeren Zigarillo-Schachteln, die mir Vater schenkte (er bekam ab und zu ein Rauchwarenpaket aus Bremen). Eisenbahn: große Schachteln waren die Loks, kleine die Personen- und Güterwagen, und ich rangierte fleißig. Ich war absolut ein Bahn-Fan, bevor ich in die Schule kam.

stenzel 010Das Wohnzimmer wurde öfter zum Spielzimmer verwandelt. Vater montierte ein Brett mit Zielscheibe an eine Wand, drückte mir ein Luftgewehr in die Hand, erklärte mir, was Kimme und Korn sind, und ich sollte Bolzen auf die Scheibe zielen. Ich traf aber sehr selten, schoss öfter die Bolzen in die Tapete neben dem Brett, das ergab hässliche Löcher in der Wand, und wir ließen dieses Spiel schleunigst sein. Da war ich schon Grundschüler. Jetzt kaufte Vater ein Netz, ein paar Schläger, ein paar Mini-Bälle, er zog den Wohnzimmertisch zu doppelter Länge auseinander, befestigte und spannte das Netz in voller Breite über die Mitte des Tisches und sagte: „Stell dich an ein Tischende, ergreife einen Schläger, auch einen Ball, versuche den Ball mit dem Schläger so zu treffen, dass der Ball zuerst bei dir, also vor dem Netz, auf den Tisch springt, dann übers Netz hüpft und hinter dem Netz wieder auf der Tischplatte aufspringt. Da gehe ich mit einem Schläger hin, und wenn du das geschafft hast, was ich dir eben gesagt habe, spiele ich auf die gleiche Weise den Ball wieder zu dir, immer hin und her, bis einer den Ball nicht auf den Tisch oder ins Netz trifft, dann gewinnt der andere einen Punkt“. Das machte Spaß, man nannte das „Ping Pong“. Wir spielten sogar zu viert, so groß waren Tisch und Zimmer. Der Tisch hatte an seinen Enden freilich nicht je zwei Ecken, sondern je zwei Rundungen – aber das war mir Grundschüler ja sowas von schnurzegal!

Noch so anderthalb Jahre vor Kriegsbeginn beschenkten mich meine Eltern mit dem „absoluten Hammer“ unter all meinem Spielzeug: eine elektrische Eisenbahn von der Firma „Trix“! Das war wohl zu meinem fünften Geburtstag. Zunächst nur ein Schienenkreis und eine Lok mit Tender und 3 Waggons D-Zug, also „durchgehenden“ Wagen, die auch noch beleuchtete Sitzabteile darboten – welch ein Luxus! Alle Abteile 2. Klasse (realiter fuhren wir stets 3. Klasse, damals gab‘s 4!) Zu Weihnachten, zum Geburtstag, immer schenkten alle örtlichen Verwandten etwas dazu, schließlich hatte ich Personenzug, Güterzug, eine zweite Lok, 4 Weichen, 2 Prellböcke, ein Schienenkreuz, Schranken, Signale, einen großen Bahnhof, und alles konnte ich mit Hilfe von zwei Transformatoren über ein Stellwerk automatisch steuern, für jede Lok brauchte ich einen eigenen Regler. Das Tollste aber war: Das Ganze wurde nicht ein für alle Male auf eine Platte festgeklebt, sondern: ich durfte – wieder im Wohnzimmer! – die Bahn auf dem Fußboden jedes Mal so aufbauen, wie meine Phantasie es mir gerade eingab, also jedes Mal anders. Viel Arbeit, schon mit den Drähten – und jedes Mal alles wieder abbauen, wenn das Zimmer anderweitig „gebraucht“ wurde. Ich war der einzige weit und breit, der eine elektrische Spielzeugbahn besaß, also hatte ich immer viele Gäste. Leider wuchs bald meine Bahn nicht mehr, mit zunehmender Kriegszeit gab’s selten oder nie etwas zu kaufen, und dann wurde eine Lok auch noch fahruntüchtig, und niemand konnte sie reparieren…

Genauso besessen wie von der Eisenbahn war ich von der Straßenbahn in Küstrin. Ich erlebte noch so nach Mitte der 30er Jahre, als ich also ganz klein war, dass sie ihre Endstation nicht in der Altstadt gleich nach dem Berliner Tor nahe der Mittelschule, also vor den Oderbrücken hatte, sondern jenseits der Oder-Vorflutbrücke, also wo schon der Stadtteil Kietz begann. Noch vor dem Krieg wurden die Oderbrücken für die Bahn gesperrt, sie waren wohl lädiert durch die schweren Fahrzeuge von der Artillerie-Kaserne. Immerhin: Das hier war die „Reichsstraße 1“! Man fuhr nun von der Endstation „Mittelschule“ auf der eingleisigen Schmalspurstrecke Richtung Neustadt. Ich erinnere mich noch an zwei Ausweichen für die entgegenkommende Bahn, einmal im Berliner Tor, zum anderen am Hohen Kavalier, bevor es sozusagen um die Ecke zur beschrankten Eisenbahnstrecke nach Reppen ging. Über die Warthebrücke fuhr man dann zum „Stern“. Hier ging ein Gleis links ab durch die Plantagenstraße zum Bahnhof Neustadt, ein anderes rechts ab durch die Landsberger Straße bis zur Endstation „Finanzamt“. Geradeaus gab es vom „Stern“ auch ein Gleis in die Zorndorfer Straße, diese Strecke führte über Marktplatz, da gab es auch eine Ausweiche, an der Wagenhalle vorbei und bis zur Endstation „Stadtwald“. Zur Linken lag hier der Friedhof, rechts gab’s ein Ausflugslokal mit Wippe für Jung und Alt.

Normalerweise fuhren die Bahnen von Mittelschule zum Bahnhof, von Mittelschule zum Finanzamt und vom Stern (wo die Zorndorfer Straße begann) zum Stadtwald. Aber ich erlebte einmal für mich die Sensation, dass aus besonderem Anlass, ich glaube, am Totensonntag, die Bahn von der Altstadt bis zum Friedhof, ohne Umsteigen am „Stern“ durchfuhr, und – noch ein Wunder – mit anhängendem Beiwagen! Die Endstationen waren eingleisig, nur Kietz/Odervorflut und Stadtwald boten dank Ausweichgleisen die Möglichkeit des Umrangierens der Beiwagen in die Gegenrichtung. Als ich 1943 zum Gymnasium fuhr, fragte ich den Schaffner: „Wo sind denn die Beiwagen geblieben?“, sagte der: „Weg! In Litzmannstadt!“ Also in Lodz.

Und was spielten wir so im Hof? Der Clou – mein Dreirad, das war groß, hinter mir als Treter war noch ein Sitz, es konnte also immer jemand mitfahren, wir spielten Taxi, mit Warteschlange. Wir spielten mit Murmeln, bewarfen uns mit Kletten, kletterten über den Zaun von der Müllkippe Hinterhaus 11 rüber zu Heinrichs Werkstatt, ärgerten uns beim Verstecken und Fangen darüber, dass wir von Hinterhaus 12 zu Hinterhof 11 wegen des dazwischen liegenden versperrten Gartens den Umweg durch die Hausflure über den Bürgersteig „draußen“ machen mussten. Wir versuchten uns auch im Wettlauf, z.B. beim Sackhüpfen oder im Rennen mit dem Steckenpferd: Den Stecken nahm man zwischen die Beine und vorne am Stecken befand sich der Pferdekopf, an dessen Halfter man mit beiden Händen „steuerte“. Bei schlechtem Wetter z.B. tauschten wir „Oblaten“, das waren Werbebilder von Firmen, diese Bilder klebten wir in Hefte, waren die komplett, gaben wir sie dem Kaufmann und kriegten dafür Rabatt. Hatte ich ein Bild doppelt, suchte ich jemanden, der es noch nicht hatte, gab es dem, und der gab mir eins, das mir noch fehlte. Auf dem gepflasterten Bürgersteig konnte man mit einem Bindfaden an der Peitsche Kreisel unterschiedlicher Größe rotieren lassen, möglichst lange Zeit. Oder wir trieben metergroße Reifen mit Höchstgeschwindigkeit mit einem Holzstab an. Mit Kreide wurde ein Kästchenspiel „Himmel und Hölle“ aufs Pflaster gemalt, da musste man in und über Kästchen hüpfen: eher ein Mädchenspiel, in unserer Nachbarschaft gab es ja mehr Mitspielerinnen als Mitspieler für mich. Wieder im Hof sprangen wir mit Seilen, übten auch Hochsprung, wenn wir sie an Wäschepfähle banden. Und im Herbst sammelten wir die reif gefallenen Walnüsse unter dem Baum in unsere Schürzentaschen. Ja, wir Kinder trugen zum Spielen so Schürzenhemden, natürlich auch von Herbst bis Frühjahr Leibchen mit Haltern für die langen Strümpfe. Wer im Frühjahr zuerst Barfußlaufen von den Eltern erlaubt bekam, das war der Held/die Heldin des Jahres. Unterm Nussbaum schaufelte ich ein Grab für meinen verstorbenen Kanarienvogel, bestattete ihn und hielt eine markerschütternde Trauerpredigt. Inhalt? Vergessen! Natürlich spielten wir auch Vater-Mutter-Kind und Arzt-Patient. Die Kinderkrankheiten hatte ich bis auf Scharlach selbst erleiden müssen (geimpft wurde nur gegen Pocken, und es blieben danach für immer diese harmlosen Pustelnarben an der Oberarmeinstichstelle). Bei meiner Nasendiphtherie hatte Dr. Heger nach einem Abstrich Schleimhautentzündung diagnostiziert, aber Mutter sagte, sie wisse doch aus dem Kinderheim, wie Diphtherie rieche und bestand auf einen erneuten Abstrich. Da kam der Arzt aus der Sprechstunde zur Wohnung angerast und behandelte mich. So retteten mir die beiden das Leben. Scheußlich war der Gang jedes Halbjahr in die Zahnarztpraxis von Dr. Rangott, die war meines Erachtens in der Roonstraße, Nähe Moltkeplatz. Der bohrte gern in meinen Backenzähnen rum, laut und schmerzhaft, um sie dann zu plombieren. Ich hatte also praktische Erfahrung für unser Arztspiel. Eines schönen Tages verordnete mir Brigitte: „Nun müssen wir noch punscheln!“ Sie ergriff ein Pusterohr (das bastelten wir, glaube ich, aus einem Stück Holunderstrauchast, das wir aushöhlten – und fertig war das Pusterohr) und führte mich aus der Praxis im Hof ins Treppenhaus auf eine der untersten Stufen und begann, mit jenem Hölzchen an meinem Geschlechtsteil herumzufummeln. Das gleiche musste ich dann bei ihr tun. Keine Ahnung, wie sie auf das Spiel gekommen war. Sie war zwei Jahre jünger als ich, hatte gerade mit der Schule angefangen. In der Schule gab es nie „Aufklärung“, und für alle Eltern war „Aufklärung“ das Tabu-Thema. Wir Kinder erfuhren gar nichts, fragten auch nie, wo die Säuglinge herkamen. Dass der Storch sie nicht brachte – das war klar, aber sie waren eben einfach da im Bauch junger Frauen. Brigittes gleichaltrige Mädchen aus dem „Barackenlager“ (Bromberger Straße) gingen mit einem um den Bauch gebundenen Kissen in die Grundschule (also „Volksschule“) und spielten werdende Mütter. Das „Punscheln“ ließen wir beide bald sein, es machte keinen Spaß – und es war wohl auch etwas Verbotenes, ahnten wir. Ich erzählte deshalb den Eltern nichts. Bis heute finde ich das Wort in keinem Lexikon, keiner Enzyklopädie.

Von den Eltern geförderter Sport – das war eine Stufe höher als Spielchen! Ich konnte kaum laufen, da fuhr mich meine sportliche Mutter – sie war nach dem 1. Weltkrieg eine der ersten Ski-Langläuferinnen, im Riesengebirge unterhalb der „Schneekoppe“ spurtete sie von Baude zu Baude – im Sportwagen also fuhr sie mich bis ans Ende der Warthebrücke, Richtung Altstadt linke Seite, und dann hinunter zum auf Pontons verankerten Schwimmbad:

„Unmöglich! So viel Wasser in Küstrin, und kein Stenzel kann schwimmen, dein Vater auch nicht! Mein 70jähriger Vater eröffnet in Grünberg heute noch jedes Jahr die Freibad-Saison mit einem Dreimetersprung vom Brett.“ Also brachte sie rasch mir Brustschwimmen bei. Irgendwann bei Hochwasser lösten sich die Pontons von ihrer Uferbefestigung, und das Bad schwamm Warthe abwärts unter der Brücke davon. Mein Vater war weniger gelenkig, ihn zierte ein kleiner Spitzbauch. Mein ebenso sportlicher Opa kam von Grünberg die 100km lange Strecke angeradelt, früh am Morgen gestartet, war er zum Mittagessen bei uns und schenkte mir das Rad. Es hatte viele Strecken hinter sich. Mutter schwärmte sofort: „Ich als älteste der drei Töchter musste immer mit, die beiden Brüder nicht! Vater und ich Grünberg-Görlitz an einem Tag!“ Keine Gangschaltung natürlich, aber schon Dynamo für die Beleuchtung und Rücktrittbremse. Nun wollte Vater mir das Radfahren beibringen. Er stellte den Sattel so tief es ging und wir liefen zur Gärtnerei Harnisch, da führte ein Weg runter zum „Warnicker Graben“. Ich kletterte über die Herrenradstange und Vater sprach: „Du trittst und steuerst, und ich halte das Rad am Gepäckträger fest, da kann nichts passieren!“ Gesagt, getan, aber ich muss wohl zu fest zugetreten haben, ich war plötzlich zu schnell, Vater musste ungewollt loslassen, ich raste davon, schrie Spaziergänger an: „Beiseite, ich kann nicht gar nicht radfahren!“ Es passierte nichts Schlimmes, wie es Vater prophezeit hatte, irgendwie muss ich vom Rad runtergekommen sein, ich kann mich an keine Verletzung erinnern. Geschockt werden wir beide sicher gewesen sein. Ich war stolz, von nun an wie ein Erwachsener so ein Zweirad beherrschen zu können. Ich glaube, Fahrräder in Kindergröße gab es zu meiner Zeit noch nicht zu kaufen.Wenn wir sonnabends zu meinen Großeltern nach Grünberg, also nach Nieder-Schlesien führen, wusste ich: Der Zug (über Reppen) geht vom Bahnhof Neustadt unten im Dunkeln um 13.33 ab, und mein Vater kam direkt nach Dienstschluss gleich zur Zugabfahrt noch zurecht. Das war wichtig, denn Fernzüge fuhren wohl nur dreimal am Tag. Ein Auto hatten wenige, also blieb man brav am Wohnort, und Mobilität war Luxus, so eine Bahnfahrt etwas ganz Besonderes. Wir drei Stenzels fuhren auch mal nach Frankfurt/Oder Sophienstraße 77e und nach Berlin Nikolsburger Platz 4 per Zug zu Verwandten. Ein Rätsel, dass ich diese Adressen noch weiß! Auf der Ostbahnstrecke fuhren D-Züge, Endstation war Charlottenburg, eine Station davor, Bahnhof Zoo, steigen wir aus, wollten ja nach Wilmersdorf. Von Küstrin bis Berlin hielt der D-Zug nicht, und die fünf Stationen in Berlin hatte ich schnell im Kopf.

Als ich dann zur Schule ging, schob mich einmal mein fürsorglicher Opa in Grünberg ins Abteil, meine Mutter kam nicht so schnell nach, und der Zug fuhr los. Allein, beschützt von einer mitfahrenden Krankenschwester, fuhr mich der Zug über Reppen-Frankfurt nach Küstrin, und ich kam am neu errichteten eingleisigen Bahnsteig oben ganz hinten an. Das Gleis führte weiter als Anschluss an die Strecke nach Stettin. Mein aufgeregter Vater war informiert worden und holte mich ab. Wenn du mit auf einen Bahnsteig wolltest, um jemanden zu verabschieden oder abzuholen, musstest du am Schalter für 10 Pfennig eine Bahnsteigkarte kaufen und an der Zelle, wo alle Fahrgäste die Fahrkarten vom Beamten mit der Knipszange lochen lassen mussten, auf gleiche Weise Durchlass erbitten. Ich spielte das alles nach, am liebsten bei Onkel und Tante in der Plantagenstraße 57. Die wohnten gegenüber vom „Oderblatt“ stadtauswärts links im letzten Haus vor dem Bahnübergang der Strecke nach Kietzerbusch, Sonnenburg, Repppen. Vom Wohnzimmerfenster aus beherrschte ich diese Strecke, im Blickfeld lag eine Brücke mit der Strecke nach Berlin, und dazwischen befand sich das mehrgleisige Netz der Werksbahn von Rütgers Schwellentränke. Ich hatte viel zu tun: Immer, wenn ein Zug nahte, kurbelte ich vom Fenster aus die Schranken runter, stellte die Signale und drehte die Schienenscheibe, wenn die Werkslok gewendet werden musste, um die holzbeladenen Güterwagen in die Halle der Schwellentränke zu schieben. Geteert und getrocknet wurden die Holzbohlen dann in Waggons gepackt, von der Betriebslok in Richtung Anschlussgleis rangiert, und abends kam eine Reichsbahn-Güterlok und holte einen vollgeladenen Güterzug zum Verschiebebahnhof ab. Der zog sich bis weit hinter dem Personenbahnhof hin, und von einer kleinen Brücke an der Tamseler Chaussee aus – dieses Brückchen steht heute noch – konnte man den gewaltigen Rangierbetrieb gut beobachten. Wir Kinder gingen öfter mal über diese Brücke, von ihr führte ein Weg zur Infanteriekaserne, die Soldaten müssen da wohl exerziert haben, denn wir sammelten da eine Menge leerer Patronenhülsen. An der Chaussee nach der Brücke rechts gab es einen Obstplantagenbesitzer, bei dem durfte ich im Krieg Stachel- und Johannisbeeren pflücken.

Von der Plantagenstraße aus ging ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Schule. Meine Mutter war im Krankenhaus, warum, weiß ich nicht mehr. Sie litt oft unter Ischias und fuhr jedes Jahr zur Kur, in der Urlaubszeit meines Vaters. Ich war dabei, zu dritt fuhren wir in die Bäder Landeck (heute polnisch), Flinsberg (heute polnisch), Elster (da durfte ich mit meiner Schippe am Waldrand Wasserbächlein umleiten, aber mein Lieblingstier, der Hase mit dem Steiff-Knopf im Ohr, wurde mir da geklaut), Ems (da hatte ich Glassplitter im Apfelmus), Salzungen (bei An- und Abreise die Umsteigestation Apolda blieb unvergesslich bei mir haften, wohl wegen der klangvollen Vokale in jeder Silbe). Einmal waren wir in Heringsdorf, da übte ich mich im Ping-Pong-Spiel (englisches Wort für Tischtennis), und damals wie heute behaupte ich: Von Küstrin nach Usedom geht’s früher über Stettin und nicht über Berlin. Als ich das feststellte, ging ich schon zur Schule, und es war Krieg.

An meinem ersten Schultag nach Ostern 1939 wollte meine Tante Anni mich natürlich hingeleiten, wir gingen also von der Plantagenstraße durch die Bahnhofstraße, aber als es am Bahnhof nach rechts in die Schützenstraße ging, sagte ich zu ihr: „Geh mal wieder nach Hause, den Rest laufe ich allein!“ Sie willigte ein. Genierte ich mich, ohne Eltern in die Schule zu kommen? Mutter im Krankenhaus, Vater kriegte dazumal für so einen Anlass keinen Sonderurlaub. Hatte ich überhaupt eine Schultüte? Das muss ein trauriger Tag für mich gewesen sein! Ich weiß es nicht.

Nach welcher Methode mir Lesen und Schreiben beigebracht wurde? Keine Ahnung! Schiefertafeln gab es nicht mehr, aber doch eine mit einem Stift beschreibbare und mit einem Schwamm die Schrift löschende Tafel. Schiefer wurde gebraucht zum Bau des Atlantikwalls. Wir lernten zunächst „lateinische Schrift“, dann wohl in Klasse 3 auf Führerbefehl „Sütterlin“, dann (merkwürdig) kehrten wir noch in der Volksschule zur lateinischen zurück. Mit Federhalter und Tintenfässchen ging es dann ganz gut, es gab ja in jeder Schulbank an jedem Platz oben rechts ein Loch mit so einem Tintenfass. Als das erste Halbjahr in Klasse 1 beendet war, gab es in Schule Wichtigeres als „Schule“: Hitler hatte den Krieg begonnen am 1.9.1939, und nun mussten wir erst mal lernen, wie man eine Gasmaske auf den Kopf setzt und, falls eine Bombe einen Brand auslöst, wie man mit einer Feuer-„Patsche“ und einem Eimer Sand und einem Eimer Wasser die Flammen löscht.

Dann wurden wir in die Erdäpfel-Felder geschickt, englische Flieger hätten Kartoffelkäfer abgeworfen, die uns die Früchte wegfräßen. Wir sollten sie sammeln, dann würden sie vertilgt. Ich fand nie einen, die anderen auch nicht. Und die Engländer? Was wir fanden, waren „Lametta-Bündel“ – sah jedenfalls so aus. Diese Metallfäden aus Stanniol, belehrte man uns („aus Zinn und Aluminium gewalzt“, sagte der Lehrer unverständlich) warfen die Engländer ab, um die deutsche Radar-Flugabwehr auszuschalten. Das begriffen wir nicht, waren für uns „böhmische Dörfer“, wie man das als Unverstandenes bezeichnete.

Stolz kam ich heim und sagte: „Ich habe ein Gedicht gelernt:

Chamberlain
das alte Schwein
fuhr mit dem Nachttopf übern Rhein,
und kam er an das Deutsche Eck,
da schoss die Flak den Nachttopf weg“.

Mutter: „Pfui, wie ordinär!“ Vater: „Donnerwetter, der Führer Englands in Deutschland?“ Beide: „Das Deutsche Eck, das ist Koblenz, kennst du doch von den Wasserstandsmeldungen!“ Chamberlain wurde im Mai 1940 sein Amt als Premier los, Churchill löste ihn ab.

Dann mussten wir jede Woche „Lumpen, Knochen, Eisen und Papier“ (für Hermann, sangen wir; damit war Hermann Göring gemeint) sammeln und in die Schule bringen. Pro Kilo gabs Punkte, für Lumpen 5, für Papier wohl 3 (Zeitungen hatten nur noch wenige Seiten) und für Eisen nur einen Punkt. Mein Vater verabredete mit seinem Kegelbruder Bruno Marx, der in der Landsberger Straße ein mit Eisen verarbeitendes Unternehmen hatte, dass ich mit meinem Leiterwägelchen jede Woche eine „Fuhre“ Alteisen abholen durfte und zur Waage in der Schule transportierte. Mein Vater sagte: „Der Brunon trägt immer am Jackett-Revers einen sogenannten Bonbon, das ist das goldene Parteiabzeichen!“ Auch Marx kam beim Volkssturm ums Leben, zwei Tage vor der Aufgabe Küstrins Ende März 1945. Was mir damals das Herz bluten ließ: Mein immer so schön rot angestrichener kleiner Leiterwagen kriegte durch das olle Eisen lauter Schrammen. Wer viele Punkte sammelte, bekam ein Buch als Prämie. Das verführte einige Mitschüler dazu, den Klassenlehrer anzulügen: „150 Punkte, mein Vater war gestern mit LKW da und lud beim Hausmeister eine große Fuhre Eisen ab!“ Der Lehrer glaubte das! Und er schrieb die vielen Punkte ins Klassenbuch. Natürlich wurde der Betrug rasch entdeckt. Wie der naive Lehrer und die Schüler bestraft wurden, weiß ich nicht.

Nun ging‘s in den Wald, Blätter von Himbeer- und stacheligen Brombeersträuchern pflücken, daraus sollte „Tee für unsere verwundeten Soldaten“ gekocht werden. Wenn einmal Unterricht stattfand, rief der Lehrer nach dem Alphabet alle Schüler auf. Wessen Name fiel, der musste zackig aufstehen und brüllen: „Hier!“ Die Start-Namen weiß ich noch: „Belz! Bimmler!“ Da stocke ich schon, weiß nicht mehr, wie es weiterging…

Um aufs Gymnasium zu kommen, mussten wir eine „Probewoche“ absolvieren mit Allgemeinbildung des Zehnjährigen plus Ertüchtigung, d.h. sportlichen Mutproben. Diese Aufnahmeprüfung bestand ich und kam ins Friedrichs-Gymnasium für Jungen in die Altstadt: „Schulstraße“, in die Sexta. Auf dem Schulhof lag eine gewaltige Stein-Klamotte, wohl Überbleibsel von den Festungssprengungen der 20er Jahre („Hoher Kavalier“), und es war so üblich, dass die Neuankömmlinge von den Älteren auf diesem Stein verhauen wurden – ein harmloser Brauch. Ich stieg in die vom Finanzamt kommende Straßenbahn am Moltkeplatz, also bei Café Büttner, ein und fuhr bis Altstadt-Markt- von da war‘s ja nur ein Katzensprung zur Schule. Mittags kam ich manchmal mit der erstmöglichen Bahn vom Markt noch nicht weg, denn da stand ein uniformierter Berufsjugendlicher, wohl ein Studienrat, aber kein Lehrer von mir, und der verbot den Fünftklässlern, nach dem Einstieg im Führerstandsbereich stehen zu bleiben, sie mussten ins Wageninnere in den Sitzplatzbereich, und wenn da Überfüllung herrschte, mussten sie eben auf die nächste Bahn warten; Folge des schikanösen Befehls: heftiges Gedränge! Nun, das hörte sehr bald auf. Das Gymnasium wurde Lazarett, und wir Quintaner zogen um in die Neustadt in ein Klassenzimmer der dort so genannten „Hilfsschule“, heute würde man sagen „Sonderschule für Behinderte“, offiziell trug sie den Namen „Pestalozzi-Schule“, direkt an der Feuerwache in der Landsberger Straße, also gegenüber vom Hotel „Hohenzollern“, wo wir im Winter bei Hochwasser und Glatteis Schlittschuhlaufen konnten. In meiner Klasse gab es so Koryphäensöhne wie Hinz, Nitzsche, Grasnickel, Löschen. Wir wohnten zum Teil wohl nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt, aber es konnte zu keinen näheren Bekannt- oder sogar Freundschaften kommen, denn: kaum um 8 in der Schule angekommen gab es die Warnung „Luftgefahr“, wir mussten schleunigst wieder heim, unterwegs heulten die Sirenen schon „Vor“- und dann „Fliegeralarm“. Wir waren alle „Schlüsselkinder“, denn die Väter und nun seit 1943 auch die Mütter waren alle „zur Arbeit“. Wir sausten also alle heim, und der Hinz – der musste bis beinahe zur Pionierkaserne laufen – warf noch einen Schneeball an unser Wohnzimmerfenster im 2. Stock. So hoch – das imponierte mir, das schaffte ich nicht! Besuchen konnte man sich nicht, jeder blieb bei seinem Luftschutzkeller. Und gab’s mal keinen Alarm, fuhr ich mit dem Fahrrad zur Mutter in den Kindergarten der Kartoffelmehlfabrik, wenn Schule „aus“ war. Da waren nette Mädchen und Jungen zum Spielen, doch zu Hause war ich kriegsbedingt angewiesen auf die, die auch dort wohnten. Die waren alle prima, aber nie ging einer von denen mit mir in die gleiche Schulklasse. Mathematikunterricht gab uns der Altphilologe Prof. Grünewald. Mit Verlaub gesagt: Auch den „Gruftie“ hatte man reaktiviert. Die jüngeren Lehrer waren an der Front, und Lehrerinnen gab’s am Gymnasium gar nicht, auch in der Grundschule hatte ich nur Männer als Lehrkräfte. Der Grünewald hatte mir Respekt eingeflößt, denn er ging zur Altstadt-Schule stets bei Wind und Wetter über die Warthebrücke zu Fuß von seiner Wohnung aus, und die war an der Ecke Warnicker-/Schiffbauerstraße! Einmal, während einer Mathe-Arbeit wurde mir speiübel. Hatte ich was Falsches gegessen oder schlug mir vielleicht Unwissendem eine Aufgabe auf den Magen? Jedenfalls konnte ich den Brechreiz nicht unterdrücken, ich übergab mich mitten auf den Klassenzimmerfußboden. Der Professor (mit dem Titel durften sich viel Gymnasiallehrer in Deutschland damals schmücken) blieb stumm wie ein Fisch, wie ein Grab, er ließ keinen Hausmeister zum Aufwischen kommen, alle Schüler mussten bis zur Pausenklingel, auch ich, die Arbeit zu Ende schreiben, angesichts der Lache mit meinem Erbrochenem. Mann, war mir das peinlich. Ob ich die Arbeit versaut habe, weiß ich nicht. Wohl nicht, dann hätte meine Mutter – mein Vater nicht! – mit mir geschimpft, und das wüsste ich noch. Die Woche begann montags um 8 am Gymnasium mit einem kernigen Spruch, jeder Schüler kam mal dran, also bei ca. 25 Schülern zweimal pro Jahr. Ich hatte mal was von dem im 1. Weltkrieg gefallenen Schriftsteller Gorch Fock (war sein Künstlername) gelesen und schmetterte, wohl auch zweimal in Klasse 5, kurz und bündig: „Seefahrt ist not! Gorch Fock“, in den Klassenraum. Das beeindruckte kolossal. Na ja, nach der Flucht aus Küstrin musste ich bis zum Abitur noch zwei Gymnasien „besuchen“ – und sitzengeblieben bin ich nie.

So, über Essen und Trinken will ich ein Kapitel schreiben. Als Einzelkind wurde ich nicht verwöhnt, gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Aber am Sonnabend nach dem wöchentlichen Wannen-Vollbad bekam ich im Kinderbett als Kleinkind Kakao mit Teewurst von Muttern gebracht! – Die erste Scheibe Wurst meines Lebens verabreichte mir Onkel Rudi Stenzel, meine Eltern trauten sich das beim Anderthalbjährigen noch nicht! – Sobald ich gut laufen konnte, „half“ ich im Haushalt und ging mit der Mutter einkaufen: zum Feinkostwarengeschäft Otto Wernau (Landsberger Straße, fast gegenüber der Niederlausitzer Bank), der noch Mehl, Zucker und anderes aus Säcken pfundweise wog und eintütete, dann zum Drogisten Tolke, dann zum Papierwarengeschäft Geschwister Schmah, und den damals unvermeidlichen Matrosenanzug für kleine Jungen gab’s in der Zorndorfer Straße. Da war auch Frau Gosserts Fischgeschäft, und wir kauften auf dem Wochenmarkt bei ihr oft einen Hecht, der mit vielen anderen noch lebendig in einer Zinkwanne herumschwamm. Frau Gossert schlug ihn tot, zu Hause schuppte ihn Mutter und „nahm ihn aus“. Gekocht schmeckte er wirklich köstlich mit Kartoffeln und Petersiliensoße. Wenn Vater von einem Bankkunden mit Jagdschein einen Hasenmitbrachte, musste auch der von Mutter vor dem Verzehr von nicht essbaren Innereien befreit werden, nachdem sie ihm das Fell abgezogen hatte. Das bekam ich dann, brachte es zum Kürschner und der gab mir 50 Pfennig dafür. Die Weihnachtsgans musste erst gerupft – von den Federn befreit – und ausgenommen werden. Die winzig verbliebenen Federkiele sengte Mutter über der Gasherdflamme ab – ein wunderschöner Geruch, der mir heute noch in der Nase steckt. Wirklich ein weihnachtlicher Wohlgeruch. An Heiligabend gab’s die Gänseleber gebraten. Vater bekam das größte Stück, aber mit einem pädagogisch gelungenen Beispiel hatten mir am „Nikolaus-Tag“, als ich 4 Jahre alt war, die Eltern beigebracht, dass man bescheiden, nicht gierig, eher genügsam sein solle: Mutter und ich hatten die Schuhe vor die Wohnungstür gestellt, Vater aber ein Paar riesig großer Stiefel. Und am nächsten Morgen waren in Mutters und meinen normal großen Straßenschuhen Süßigkeiten, dem Vater aber hatte Nikolaus eine große Rute in einen Stiefel gesteckt, im anderen war gar nichts. Unbeherrscht heftiges Verlangen gehört sich nicht, wird bestraft. So war ich mit dem kleinen Stück Leber zufrieden – war ja auch das kleine „Bübchen“…

Der Karpfen an Silvester schmeckte mir „nach gar nichts“. Aber ein paar Schuppen im Portemonnaie versprachen Geldglück im neuen Jahr, wie eine Kastanie in der Hosentasche rheumafrei machte. Alles spaßige Verheißungen! Spinat schmeckte, weil es dazu Setzei (Spiegelei) gab.

Die gut gewürzte Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen mit Senf, „saure Eier“ (hartgekocht in Senfsoße), Flammeri (erkalteter Grießbrei mit Himbeersaft) als Süßspeise, Tiroler Knödel oder Königsberger Klopse aus „Hackepeter“ (Hackfleisch): ach, ich könnte noch mehr Leckerbissen aufzählen. Warum nur schmeckte Medizin so schrecklich bitter: Wermuttee bei Magenverstimmung, Rizinusöl bei Stuhlgangbeschwerden. Aber Lebertran war bekömmlich, weil man dieses Öl in einer zuckersüßen Pampe als Emulsion aus der Apotheke bekam. Sollte Kinder wohl groß und kräftig machen. Wohl auch mit 4,5 Jahren lernte ich Kleingeld kennen und durfte Kleinigkeiten einkaufen. Eine Literkanne Milch wurde im Geschäft mit einem Messgerät aus einer bäuerlichen Großkanne gefüllt. Die Milch war vollfett, und wenn man sie sauer werden ließ, was im Sommer rasch passierte, dickte sie ein, und mit Zucker und Zimt – au Backe, das schmeckte! Beim Bäcker die Schrippe (Brötchen) kostete „einen Sechser“, das waren 5 Reichspfennige. Der Frisör Roßmann nahm für meinen Kinderhaarschnitt 60 Pfennige.

Mein spannendster Einkauf fand am von Herrn Zärtner geführten Bierwagen, gezogen von zwei strammen Gäulen, statt: Ich holte da eine große Kanne „Pupe“, aus diesem Jungbier zauberte Mutter nach Rezept ein Getränk, und ich half beim Einfüllen in normale Bierflaschen und korkte sie zu. Abends trank Vater ein Fläschchen, ab und zu durfte ich Glas an Glas mit ihm anstoßen – mit Malzbier! Vater: „Das ist kein Alkohol, müsste eigentlich Malzsaft heißen, besteht aus Vitaminen und Zucker!“ Durfte ich also mal trinken. Unbändig froh war ich, wenn ich im Sommer bei Zärtner aus Tamms Brauerei-Fuhrwerk eine ca. 1m lange Packeisstange kaufen durfte. Mutter zerteilte sie und packte sie Stück für Stück in den Eisschrank und erhielt so alle Lebensmittel eine ganze Woche lang, dann erst war das letzte Stück Eis weggeschmolzen. Ein toll isolierender Schrank, für mich ein Wunder. Elektrische Kühlschränke gab’s noch lange nicht.

Mit Kriegsbeginn gab es alle wichtigen Lebensmittel nur noch auf Marken und Karten. Bald wurden Tortenböden aus zermahlenen Kartoffeln konstruiert, statt Sahne kam irgendein weißer Kunstschaum oben drauf. Mutter kannte Pilze, wir sammelten gelbe sogenannte „Wiesenschieber“, schnitten Sauerampfer für eine Suppe, Kartoffelpuffer wurden mit Lebertranöl gebacken: welch abschreckender Geruch! Die Puffer schmeckten aber, mit Apfelmus. Obst holten wir mit dem Fahrrad von Vaters Cousine Ella Fürstenberg aus Manschnow. Steckrüben und Porree so ganz ohne „Einbrenne“ („Mehlschwitze“) war auch kein Genuss. Aber wir waren immer satt, hungerten nicht, und ich murrte nie, denn ich war ja nach dem Spruch erzogen: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt! Bananen, Apfelsinen sah ich ab 1939 zehn Jahre lang nicht, Pampelmusen, Ananas und dergleichen lernte ich erst Jahre nach Kriegsende kennen. Das Stichwort der Kriegsjahre hieß „Sparen“. Die Uhren wurden im Sommer zwei Stunden statt nur eine Stunde vorgestellt, da war’s bis 22.30 Uhr hell, und man sparte Licht. Geld wurde „eisern“ gespart für einen VW „nach dem Sieg“. Vater tat das nicht, er hatte einige sichere Aktien. „KDF“ (Kraft durch Freude) machte fast nichts mehr in Tourismus, sondern in „KLV (Kinderlandverschickung) für Evakuierung der Kinder aus gebombten Großstädten in die Dörfer. Für alles Wichtige zur Ernährung gab es „Ersatz“: statt Eiern „Milei G“, ein gelbliches Pulver, in Wasser aufzulösen, statt Bohnenkaffee Kathreiners Malzkaffee, Kunsthonig aus Rübenzucker statt Bienenhonig – und so fort…Merkwürdig: Erzeugten Hühner und Bienen im Krieg weniger (Unsinn!) oder wo wurden ihre Produkte wofür gebraucht? Einmal erblasste ich doch vor Neid: Bei Tante Anni Roehl in der Küche lag auf einem Holzteller so saftiges, schieres kleingewürfeltes Gulasch – für Menschen ungeeignet, war für „Mullekin“, die Katze! War nicht vom Rind. Tante hatte es vom Pferdefleischer oder von der Abdeckerei (Tierleichnamverwertung). Onkel Paul Roehl war schwer zuckerkrank, kriegte er "Sonderrationen"? Als die Nazis den Bürgermeister Securius aus dem Amt warfen, ging der Onkel in Pension, viel zu früh: Jahrgang 1877! Er war Amtmann bei der Stadtkasse Küstrin gewesen, wurde wohl aus gesundheitlichen Gründen entlassen. Er musste viel spazieren gehen, gelegentlich ging ich mit. Wir waren einmal bis zur Warthe-Mündung in die Oder. da an der Spitze des Zusammenflusses war so herrlich weißer Sand, ich kam mir vor wie am Ostseestrand.

Der 1. September 1939 bahnte sich an. Die meisten deutschen wollten Hitlers Krieg. Ich wusste ja vom Spielen her: Krieg – da geht viel kaputt, und Menschen sterben. Mein Vater ging mit mir vom Stern in die Landsberger Straße, da links in einem Haus. Wohl im 1. Stock, wehte der Wind durch zerbrochene Doppelfenster große Übergardinen ins Freie, das sah schrecklich aus. Was mein Vater sagte, weiß ich nicht, hätte ich auch nicht begriffen, denn ich war gerade 5 ¾ Jahre alt. Es war nach der Pogromnacht vom 9.11.1938. Von Juden verstand ich noch nichts, aber meine Mutter sagte aufgeregt beim Mittagessen einmal zum Vater: „Da ist ein Plakat an der Litfaßsäule, steht drauf: ,Erna Stenzel kauft bei Juden!‘“ Und Vater sagte nur: „Erna Stenzel, so heißen in Küstrin mehrere!“ Wieder wusste ich nicht, worum es ging. Offenbar war die Sache auf diese Weise erledigt. Mein nächstes Schreckerlebnis war der „Tag der Wehrmacht“: der war in jedem Jahr, wohl im Sommer, an einem Sonntag. Die Soldaten exerzierten vor Publikum, was sie können müssen. Und für die Zuschauer gab’s aus der Gulaschkanone Erbsensuppe mit Speck und Würstchen. Wir gingen zur Pionierkaserne. Nach dem Gebäudekomplex kam erst das Anschlussgleis für den Güterverkehr nach Lagardesmühlen und dann ein Freigelände quasi an der Stadtgrenze nach Warnick, und dort vollführten die Soldaten ihre Manöver. Sie hatten da einen Schützengraben ausgehoben und befeuerten den nun mit Flammenwerfern. Ich schrie: „Da können doch Menschen sein im Graben. Ne, Soldat möchte ich nicht sein!“ So war bei mir das Gegenteil von der Absicht erreicht, begeistert fürs Militär zu sein. All die anderen fanden die geworfenen Feuer wohl faszinierend und spendeten Beifall. Im Frühjahr 1939

musste mein Vater wochenlang nach Jüterbog zu einer Reserveübung beim Fliegerbodenpersonal, wo er im 1. Weltkrieg tätig war. Am 1. September begann Hitler-Deutschland offiziell den Krieg. Küstrin hatte offenbar noch keine Sirenen auf hohen Dächern installiert, denn ich sah, wie mit hohem Tempo ein offener Geländewagen mit „aufgepflanzter“ Sirene von der Pionierkaserne durch die Warnicker Straße Alarm heulend Richtung Innenstadt raste: Achtung! Feindflieger! Wurde so allen kundgetan. Es war „Probealarm!“ Einmal – ich weiß nicht wann – war ich auf der Warthebrücke und sah entsetzt, wie massenweise tote Fische kieloben flussabwärts trieben. „Die Polen haben die Warthe vergiftet!“, geiferten die Leute. Als Erwachsener klärte mich in den 50er Jahren Oberstudienrat Burucker auf: Es hatte Sauerstoffmangel bei Niedrigwasserstand der Warthe Schuld am Tod der Fische. Vielleicht hatten sie da in Polen schon den „Reichsgau Wartheland“ gebildet und Lodz hieß Litzmannstadt… Zuhause wurde der Ernst des Krieges deutlich sichtbar, indem zur Straßenseite hin alle Kellerfenster mit einer hohen Betonmauer umkleidet wurden. Sodann mussten wir und andere unseren großen Keller räumen, und daraus entstand ein gewaltiger Luftschutzkeller mit einem Durchbruch zum Keller von Haus 13 nebenan. Wir kriegten eine Kellerzelle unterm Hinterhaus. Wegen der Enge dort musste ich die Briketts ordentlich stapeln, unter der Decke war eine Kiste verankert, aus der purzelten über eine Rutsche die Kartoffeln, und dann war da noch ein Brett, wo die Boskoopäpfel überwinterten (schafften die bei der Kälte im Keller). Viel für den Knaben Unverständliches blieb auch unerklärt in mir haften. Eines Sonntags vormittags besuchte ich Tante Anni in der Plantagenstraße. „Warum stehst du am Fenster und zählst die Leute, die aus der Kirche kommen?“, fragte ich. Sie: „Ich will wissen, ob heute der Reibi-Pfarrer gepredigt hat. Der andere ist gegen Hitler!“ Später, als Konfirmant, machte ich mich schlau. Reibi war die Abkürzung für „Reichsbischof“, und der sammelte die evangelischen Pfarrer, die national und antisemitisch eingestellt waren, ein zu Hitleranhängern, und „der andere“ gehörte zur Minderheit der „Bekennenden Kirche“, die nicht NS-hörig war. In Küstrin-Neustadt hatten also beide Gruppen abwechselnd sonntags das Sagen, meinte zumindest meine Tante. Der Onkel besaß einen Schallplattenspieler, ich durfte kurbeln, eine Platte einlegen, anstellen und die Nadel auf Abspielbeginn einpieksen. Da waren Lieder, Schlager, Tanzmusik und plötzlich erhaschte ich ein Couvert mit acht 78er Platten: „Der Troubadour, gesungen von Richard Tauber, Tenor“, las ich – und behielt es im Kopf. Der Onkel sagte: „Die können wir nicht auflegen, die sind so teuer und brauchen besondere Nadeln, und die gibt’s jetzt nicht zu kaufen!“ Wieder machte ich mich später schlau. Tauber, österreichischer Jude, war 1933 nach England emigriert, es war verboten, ihn zu hören. Der Onkel hatte die Tauber-Platten nicht entsorgt, aber er traute sich nicht sie anzuhören, nicht mal heimlich! Den Überfall auf Russland 1941 begleitete er an einer großen UdSSR-Landkarte, die er an der Zimmerwand angebracht hatte. Mit bunten Stecknadeln aktualisierte er den Vormarsch der deutschen Truppen. Dann ab 1942 ging es rückwärts für die Deutschen, und ich sagte ordnungsliebend: „Die Nadel steckt ja noch bei Wiliki-Waluki (tatsächlich hieß das Welikije Luki), da sind wir doch gar nicht mehr“. Der Ort liegt westlich von Moskau und war wie Stalingrad seit Februar 1943 fest in russischer Hand. Am 44. Geburtstag meiner Mutter, dem 18. Februar, grölte Goebbels die Parole vom „totalen Krieg“. Der war bei uns in Küstrin dergestalt angekommen, als im Jahr 1943 zunehmend Tag und Nacht Fliegeralarm ausgelöst wurde, bei Tage kamen die Amis, des Nachts die Briten, manchmal letztere zweimal, und ich blieb gleich angezogen im Bett, dann ging’s wieder ab in den Keller. Dort hörte ich so manches. „Die zerbomben alle deutschen Städte, nur die im Osten noch nicht, entlang der Oder sind noch alle heil bis jetzt“. „Afrika ist verloren, halb Italien auch schon“. „Müllers Sohn von parterre ist nun auch gefallen“. Der hatte mit Freunden vor vielleicht fünf Jahren im Hof mal Fußball gespielt, und ich Bübchen durfte mitkicken – was ich da noch gar nicht konnte. Ja, immer mehr Heldentod-Anzeigen im Oderblatt: gefallen „für Führer, Volk und Vaterland!“ Mutter erzählte von ihrem Einsatz als Leiterin des Kindergartens der Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik. Seit 1943 mussten alle deutschen Frauen unter 60 Lebensjahren arbeiten gehen. „Der Chef, Herr Direktor Kerkhoff sagte: ‚Frau Stenzel, Sie müssen mit dem Kindergarten in die NSV eintreten!‘ Tat ich nicht, betonte: Wir sind doch ein Betriebskindergarten! Und so bleibt’s!“ NSV hieß: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Übrigens absolvierte, als Mutter arbeiten ging, Hertha Beiersdorf aus Wilkersdorf ihr „Pflichtjahr“ (musste jedes Jungmädel machen) bei uns im Haushalt, tagsüber. Da musste sie auch mit in den Keller. Ertönte der langgezogene Sirenenton, hieß das: „Entwarnung“, und Küstrin war wie immer verschont geblieben, nur unsere Flak hatte herumgeballert. Warum? Wohin? Mir ist heute schleierhaft, wie wir Kinder es schafften, nach gekürzter, unterbrochener Nachtruhe pünktlich zu 8 Uhr in die Schule zu streben. Gewiss, es gab auch 1943/44 mal Perioden, Wochen ohne Alarm – aber immer seltener! Sauber blieb der Luftraum fast immer nachmittags (einkaufen!) und abends. Der Winter kam, und ich strebte an jenen Nachmittagen oft zum Kaiserkolk. Im Sommer lebte in dem Teich der Schwan mit und in seinem Häuschen. Jetzt war das saubere Wasser schön glasglatt zugefroren. Das Schlittschuhlaufen hatte ich mir selbst beigebracht. Man musste das Gleitgerät unter seine Straßenschuhe schnallen und mit einem Schlüssel fest zuschrauben, da hatte man erst mal eiskalte Finger, bevor man seine Pirouetten aufs Kolkeis zaubern konnte. Das war ein Riesenspaß, außer einem Schlitten einzig möglicher Wintersport für uns „Flachlandtiroler“! Manchmal kam Margot (Behrendt, Hinterhaus Nr. 11) mit, und sie schaffte es, nachdem wir uns auf dem Eis ausgetobt hatten und beim Heimweg am „CL – Cüstriner Lichtspiele“ neugierig verharrten, mich ins Kino einzuladen. Sie hatte Geld dabei, es kostete je eine Mark für uns. Wieso ließen die uns fast 11jährigen überhaupt rein? Der Film hieß: „Die große Liebe“. Kinder freilich behielten, was die Diva sang: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh‘n“ und wohl auch: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ – der Volksmund ergänzte den Gassenhauer: „Und im Monat Dezember gibt’s wieder ein Ei!“ Der singende Filmstar war Zarah Leander, das Lichtspiel war vom vorigen Jahr 1942, Zarah war inzwischen in ihre schwedische Heimat „entflohen“. Beim Verlassen des Kinos schwärmten lauthals Cineasten: „Toll, wie der Kampfflieger in Russland und Afrika immer siegt!“ Wahrheitsgetreu kam wieder meine Belehrung: „Da sind wir doch gar nicht mehr!“ „Rede mal nicht so kess, jetzt kommen unsere V-Waffen, und das Wunder geschieht bald!“ Ja, mit den „Vergeltungswaffen“ werden wir siegen, glaubten die meisten Deutschen noch den NS-Parolen. Wie ich nun kinobedingt volle zwei Stunden zu spät vom Eislaufen nach Hause komme, werde ich von den Eltern bestraft wie noch nie. Verhauen tun die mich nie (machte übrigens auch kein Lehrer bei mir), aber ich muss mich eine Zeitlang stumm in eine Zimmerecke stellen, Rücken Richtung Zimmer, Gesicht zur Wand! Viel schlimmer: anderntags muss ich zu Frau Behrendt gehen und ihr eine Mark übergeben. Das war wie ein Gang nach Canossa, nur viel, viel peinlicher!

In der Zeit kam ein Verwandter aus Russland, Soldat, der Fronturlaub ergattert hatte. In einer Männerrunde in unserem Wohnzimmer erzählte er so leise flüsternd, dass ich, in einer Ecke des Zimmers spielend, neugierig meine Lauscher den Herren zuwandte. Da murmelte der Landser gerade: „Die Russen kommen immer näher, und wehe uns allen, wenn sie sich rächen für das, was wir ihnen angetan haben!“ Ich erschrak heftig, fast elfjährig ahnte ich mit einem Anflug von Verständnis, aber doch wohl mehr instinktiv: Da droht Schreckliches! Diesbezüglich untrügliches Vorzeichen für uns in Küstrin im Sommer 1944 die Einquartierung von Flüchtlingen aus dem Baltikum und von der ostpreußischen Ostgrenze, bis dahin war die Rote Armee inzwischen vorgestoßen. Unser sogenanntes „Herrenzimmer“ mit Balkon wurde für ein Ehepaar beschlagnahmt, und Mutter musste bei der von ihr geschmähten NSV ein Riesenbett besorgen, weil der Mann an die zwei Meter lang war. Nach Hitler-Befehl durfte ja kein Deutscher seine Heimat verlassen, aber diese Flüchtlinge hatten’s getan. Nach ca. ¼ Jahr mussten sie Küstrin verlassen und wollten gen Westen „reisen“. Als sie uns verlassen hatten, sagte Mutter: „Mein Fleischwolf ist weg!“ In der Zeit posaunte Goebbels nochmals den „totalen Krieg“ (3.8.). Eines Tages bewegte sich ein Flugzeuggeschwader geradlinig über der Warthe stromaufwärts. Es war kein Fliegeralarm, so glaubten Brigitte und ich, es seien „unsere“ Flieger, unbekümmert zählten wir sie, sie flogen nicht sehr hoch, das war also leicht möglich. Wir kamen beide auf 70 Maschinen! Anderntags hörte ich im Radio den „Wehrmachtsbericht“: Es seien Bomben auf Posen geworfen worden, im Krieg ja eine deutsche Stadt im „Reichsgau Wartheland“. Sahen wir etwa doch Feindflieger und nicht „unsere“? Küstrin, vor allem in der Neustadt, Industrie, Garnisonen, Verkehrsknotenpunkt, blieb seltsamerweise weiter unbehelligt. Heile Welt? Nein, nein, Judensterne an der Oberbekleidung sah man seit Jahren nicht mehr, die Juden waren alle „umgesiedelt“, brave Bürger lebten und arbeiteten in der Schokoladenfabrik Sonnenburg. „Schokoladenfabrik? Da will ich mal hin!“, sagte ich zu meinem Vater. „Quatsch, das ist ein Kosename für ein Gefängnis!“ Ich gab mich zufrieden. Die Erwachsenen, Vater wohl auch, versteckten mit so einem spaßigen Pseudonym ihr verbotenes Wissen, dass nicht Kriminelle, sondern Oppositionelle – Sozialdemokraten, Kommunisten – von den Nazis in Konzentrationslagern und KZ-Nebenlagern wie Sonnenburg festgehalten, gefoltert, getötet wurden, überall in Deutschland.

Gerade der Grundschule entwachsen, musste ich „Pimpf“ werden, in Österreich, erklärte mir jemand, verstand man darunter: „Du bist ein harmloser, kleiner Junge“, aber in Nazi-Deutschland musste jeder Zehnjährige zum „Deutschen Jungvolk in der Hitlerjugend“ und bekam eine Uniform verpasst. Ich, naiv-starrsinnig, aber voller Gerechtigkeitssinn, verkündete: „Wenn meine Mutter auf Kleiderkarte keine Strümpfe kriegen kann, will ich kein Braunhemd haben!“ Am 20. April 1943, Führers Geburtstag, marschierten wir Knaben in Sechserreihen über die Warthebrücke hin zum Schlosshof, wo wir vereidigt wurden. Ich, der Nichtuniformierte, wurde in der letzten Marschreihe in der Mitte versteckt. Im Schlosshof spielte der Fanfarenzug. Da fiel einem Trommler ein Stab – wir nannten das Klöppel – aus der Hand, und ein Studienrat, ich glaube, der hieß Dr. Nitz, wollte sich bücken, um den Stab aufzuheben, aber ich, wohlerzogen, war schneller. Nun sahen mich alle ununiformiert. Das hatte für mich keine Folgen. Und ich war „Pimpf“ 20 Monate lang, bis Januar 45. Danach in den Flüchtlingsorten kümmerte man sich nicht mehr um mich. In den 20 Monaten war sehr oft „Dienst“ und jeden Sonntag um 10 Uhr im „Apollo“-Kino „Jugendfilmstunde“ als Kirchenersatz bzw. Ersatzkirche: Wochenschau, Kulturfilm, Film. Rühmann: „Quax, der Bruchpilot“. Albers: „Lumpazi Vagabundus“ usw., usw. Ein Film, wohl auch mit Albers, der hieß „Der große Treck“, beeindruckte mich sehr. Da flohen in einem gekaperten Eisenbahnzug Volksdeutsche aus nach 1. Weltkrieg wiedererstandenem Polen gen Westen „heim ins Reich“, der Zug wurde beschossen, der letzte Waggon brannte, halsbrecherisch wurde er im Fahren abgekoppelt – und die Flucht gelang.

Im wöchentlichen „Dienst“ lernte ich gleich, dass der „Reichsjugendführer“ Axmann hieß, und mich amüsierte das X in seinem Namen – wie bei „Quax“. Mein Fähnleinführer war Kerkhoff, Fabrikdirektors Sohn, mein Jungzugführer Büttner, Konditors Sohn vom Café an der Normaluhr Landsberger Straße. Der soll beim Endkampf in der Neustadt dort umgekommen sein. An den Dienst-Abenden dozierte er klassische deutsche Literatur, das gefiel mir sehr. Jetzt muss ich mal orakeln: Ich vermute, er vermittelte uns das, was er selbst im Deutschunterricht gerade beigebracht bekommen hatte. Er war wohl 5 Jahre älter und demnach Untersekundaner, also Zehntklässler. Oder irre ich mich? Jedenfalls waren die Älteren Flakhelfer, Jahrgang 26 freiwillig schon Soldat. Natürlich sangen wir auch die Nazi-Schlager wie „Es zittern die morschen Knochen“, „Deutsche Panzer im Sonnenbrand“ – dabei war 1943 nach Stalingrad auch Afrika verloren und bald grölten wir auch das Spottlied mit der Melodie der italienischen Nationalhymne:

Wir sind tapfere Italiener
Unser Land wird immer kleener
Sizilien ha’m ´se uns genommen
Bis Mailand sind ´se schon gekommen

Den Duce ha’m ´se uns gestohlen
Der Storch, der musst‘ ihn wiederholen.

Mussolini war von Fieselers Storch, einem Langsamflugzeug „befreit“, erklärte man uns. Wir sollten dann mit Sammelbüchsen auf die Straßen ziehen und die Menschen animieren, Geld für das „Winterhilfswerk“ hineinzutun. Einige Groschen waren vorab in die Büchsen platziert. Das Klappergeräusch beim Schütteln der Büchsen wirkte aktivierend auf die Spendenfreudigkeit der Passanten. Ich machte da sehr ungern mit, kam mir vor wie ein um Almosen Bettelnder.

Einmal Appell am Stadtwald, Befehl des Stammführers: „Fähnlein A verteidigt Stadion, Fähnlein B greift an! Kampf Mann gegen Mann!“ Also sogenanntes Geländespiel. Ich gehöre zu den Angreifern. Spielregel: Besiegst du einen, leg ihn auf den Bauch, klopf ihm drei Mal auf den Rücken, er ist dann tot und scheidet aus dem Spiel aus. Also „töte“ ich einen, kämpfe weiter. Später sehe ich den Toten wiederauferstanden und weiter kämpfen! Wutentbrannt höre ich auf und fahre mit der Straßenbahn heim. War das nun Befehlsverweigerung, Dienstverletzung? Doch wohl zuerst von dem anderen! Mein Scharführer sagte mir hinterher: „Weißt du, also im vorigen Jahr, als es noch Stoff gab, wurden die Besiegten am Arm textil markiert, da konnte so etwas nicht passieren!“

Nun, ab und zu schwänzte ich den Dienst auch mal. Eines Tages fehlte mir die Lust, und ich ging nicht hin. Da klingelte es an der Wohnungstür, es war der Scharführer. Mein Onkel Roehl, gerade zu Besuch, blaffte mich an: „Nimm mal Haltung an gegenüber deinem Vorgesetzten!“ Ich: „Wieso? Hier vor unserer Wohnung?“ Worum ging es? „Matthias, du musst sofort mitkommen zum Völkerballturnier am Warnickschen (d.h.: Warnicker Graben), ohne dich gewinnen wir nicht!“ Ich also rasch mit hin, wir gewannen, dank mir, und so war ich wieder mal fein raus, rehabilitiert.

Noch so eine Episode: Pimpfen-Kolonne marschiert die Chaussee nach Sonnenburg – lange, bis zu einer Scheune, vor der wir biwakieren. Nachts müssen wir unsere Scheune gegen Feinde verteidigen (sind wohl HJ-Kumpels vom nächsten Dorf) – das schaffen wir. Nächster Morgen Fahnen-Appell und die anderen üblichen Ritualien, dann…: Geländespiel! Mit mir doch nicht! Kommandierender schneidig: „Wer kann kochen? Drei Freiwillige vortreten!“ Gemeint hatte er sicher: drei Feiglinge! Ich trat sofort vor. Wir drei sollten Nudelsuppe für alle zubereiten. Feuer entfachen war kein Problem, aber wieviel Wasser musste in den Kessel, um die vielen Nudeln weich zu kriegen? Wir hatten keine Ahnung. Kurzum: Von dem Riesen-Nudelkloß wollte niemand etwas zu sich nehmen, er wurde unfeierlich in die Erde versenkt. Was wir dann aßen und ob wir bestraft wurden, weiß ich nicht mehr. Es muss wohl glimpflich ausgegangen sein. Bis zum 14. Lebensjahr wäre ich noch Pimpf geblieben, dann 14-18 HJ, aber als ich 12 war, ging das „3.Reich“ in den Orkus, mithin auch die HJ. Die gleichaltrige Margot, als „Jungmädel in der HJ“ gekleidet, verkündete mir: „Ich war schon vor meiner Geburt im BDM!“ Ich: „Wieso das denn?“ „Ja, ich war im Bauch der Mutter!“ Sehr witzig! BDM, das war die weibliche Jugend von 14-18 und hieß „Bund Deutscher Mädel in der HJ“.
Ob im Januar 45 nach den Weihnachtsferien noch Schule stattfand, weiß ich nicht mehr. Ich musste vom 8.-13.1. eine Woche lang nach Neudamm in ein Napola- („Nationalpolitische Erziehungsanstalt“) Vorbereitungslager. Die Nazis glaubten wohl, ich wachse noch. Mein Vater intervenierte: „Matthias am Geburtstag (Donnerstag, 11.1.) nicht zu Hause?“ Die NS-Kreisleitung unbeeindruckt: „Das ist Dienst!“ Man glaubte noch an den Endsieg, die Rote Armee stagnierte an Ostpreußens Ostgrenze – aber am 12.1. begann ihre Großoffensive, täglich erfolgreich. Eine meiner Mutproben in Neudamm: bei minus 12°C aus der Turnhalle hohe „Böcke“ nach draußen in den tiefen Schnee schleppen und in kurzen Hosen drüberspringen. Jahre später erzählte mir meine Mutter, nach Rückkehr hätte ich geschwärmt: „Da gab es Käsekuchen und Kakao“. Das gabs ja 45 nicht mehr Zuhause! Am 22. Brachten wir meine Oma zum Bahnhof Kietzerbusch, von da waren’s 100km bis Grünberg/Schlesien. Kein Zivilist durfte damals mehr als 10okm von seinem Zuhause weg – und vom Hauptbahnhof Küstrin waren es 101km bis Grünberg! Oma wollte nach ihrem Weihnachtsbesuch bei uns „vor den Russen“ in ihrer Wohnung sein. Der Zug nach Grünberg fuhr pünktlich nach Fahrplan noch am 22.1.!

Eine Woche später erreichte die Rote Armee an mehreren Stellen die Oder. Ich erlebte das am 31. Januar hautnah in Küstrin. Mittags schickte mich meine Mutter in die Plantagenstraße 57: „Guck mal, ob Tante Anni (Schwester meines Vaters) und Onkel Schatzi (Paul Roehl) noch da sind“. Die Landsberger Straße über „Stern“ Richtung Warthebrücke fuhren dicht an dicht Pferdegespanne der aus den umliegenden Dörfern flüchtenden Bauern. Kein Fahrzeug in der Plantagenstraße, keine Roehls im Haus Sowa. Ich erfuhr: „Soldat Kurt Roehl, Sohn von Cläre und Richard Roehl vom Moltkeplatz, bekam Sonderurlaub und hat Roehls gestern zur Bahn gebracht.“ Heute weiß ich: Kurt durfte nicht zu seiner Einheit zurück, er musste auf Befehl des Festungskommandanten in Küstrin bleiben und kämpfen, er hat’s – wie die anderen Roehls – überlebt.

Nun ging ich vom Bahnübergang/“Oderblatt“ durch die Plantagenstraße zurück, das muss so gegen 13.00 Uhr gewesen sein. Kurz vorm „Stern“ hörte ich hinter mir ohrenbetäubendes Rasseln, und es begann zu knallen. Instinktiv raste ich los und kam irgendwie zwischen den Flüchtlingstrecks auf die Landsberger Straße links, stürmte an einer Fleischerei vorbei und die paar Stufen im Haus der „Niederlausitzer Bank“ hinauf in die Bankfiliale. Dort wurde normal gearbeitet, aber mein Vater, der ja da als Prokurist arbeitete, war nicht da, hatte wohl „Volkssturm“-Dienst im Gasthaus „Asmi“. Als nach kurzer Zeit keine Schüsse mehr fielen, begleitete mich, ich sah zwischen Feinkostgeschäft Otto Wernau und Apotheke nur tote Pferde und verlassene Gespanne, eine Bankangestellte in Richtung Moltkeplatz. Da kam meine Mutter uns entgegengehetzt. Sie hatte, als die Knallerei losging, dem Gerede, auf der Warthe werde das Eis gesprengt, damit kein Russe „rüberkommen“ könne, nicht geglaubt, und ahnungsvoll suchte sie nun nach mir. Wir gingen heim, griffen unser Luftschutzgepäck – im großen Reise-Lederkoffer waren meine Schulzeugnisse, aber leider kein Fotoalbum mit Kinderbildern von mir – und gingen damit in den großen Luftschutzkeller. Im Keller bauten wir uns wie alle anderen noch verbliebenen Hausbewohner ein Nachtlager. Dann kam mein Vater dazu. Er tuschelte mit anderen Männern, aber ich kriegte alles mit. Ein NS-Blockwart oder ein fanatischer PG war nicht dabei, sonst wäre es lebensbedrohlich für sie geworden, denn sie baten die Mieter um Erlaubnis, aus allen Wohnungen, in denen Hitler-Bilder an Wänden hingen, diese abzunehmen und in den Keller zu bringen. In der Waschküche wurden sie zerhackt und mit diesem Kleinholz der mit Wasser gefüllte Kupferkessel, in dem im Krieg Zuckerrüben zu Sirup verarbeitetet wurden, beheizt. Das wurde eine warme Nacht für uns. Herr Loh fragte: „Matthias, du warst dabei, als der Iwan mit den T34er Tanks heute zum „Stern“ kam?“ „Ja, die kamen, schossen und fuhren wieder zurück Richtung Drewitz, da kamen sie auch her.“ „Ja, bei Kienitz sind sie über die Oder gekommen. Die wussten genau, dass unsere 3 Kasernen nicht an dieser Strecke Drewitz-Stern liegen. Waren Soldaten auf den Panzern?“ Ich: „Ach wo, die mussten ja auch hintereinander fahren, für ein Nebeneinander ist die Plantagenstraße viel zu schmal!“ Loh: „Also typische Blitzkrieg-Attacke, Panzerspitze stößt vor, um Angst und Chaos zu erzeugen, haben wir ihnen in den ersten Kriegsjahren vorgemacht – die paarT34er wollten nicht zur Warthebrücke und Brückenkopf bilden, die wollten nur überraschen!“ Ich: „Vom „Stern“ zur Warthe? Da waren endlos die Trecks, in der engen Straße hätte kein Panzer durchgekonnt. Nur in der Plantagenstraße war alles ohne Hindernis!“ Vater: „Ein HJ mit Panzerfaust hat aber einen Panzer erwischt, der steht nach den „Rütgerswerken“ Richtung Drewitz.“

In der Nacht blieb es still. Wo wir austraten und ob wir uns wuschen, weiß ich nicht. Am 1. Februar trauten wir uns raus auf die Straße. Wir erspähten auf dem Betriebshof gegenüber vom Siechenhaus einen Wehrmachts-LKW. Mutter fragte: „Nehmt ihr meinen Sohn und mich mit?“ „Nein, nur Frauen mit Kleinkindern!“ Dann liefen ca. 10 Pioniere mit Panzerfäusten entlang der Krankenhausmauer Richtung Stadt. Auf unserem Bürgersteig liefen Offiziere Richtung Kaserne. Da pöbelten lauthals die Landser: „Gehen sie wieder spazieren, die Herren Offiziere!“ Später kam auf einmal ein die volle Straßenbreite einnehmender Panzer von der Kaserne her: ein „Königstiger“! Der hielt bei uns. Jemand fragte den Kommandanten: „Was machen Sie hier?“ „Solange ich noch Sprit habe, fahre ich hin und her. Der Russe soll denken, wir sind mehrere.“

Mittags sagte Herr Loh: „Traut euch mit rauf zu mir, ich brate uns das im Garten selbst geschlachtete Kaninchen.“ Gesagt, mutig getan! Es gab ja noch Gas, Wasser, Strom. Abends und nachts alle wieder im Keller, auch am Freitag, dem 2. Februar. Wieso meine Eltern am Nachmittag wussten, dass es am Bahnhof noch eine Chance gab, mit einem Zug wegzukommen, bleibt für mich ein Wunder: 6. Sinn? Ich weiß nur, dass Herr Loh, jetzt Rentner, mal Lokführer war. Hatte der das erfahren? Ich holte mein Leiterwägelchen aus dem Stall, wir luden das Luftschutzgepäck drauf und Mutter packte noch ein großes Federbett drauf. Kälte, Schnee, menschenleere Straßen, am Bahnhof auch keiner. Wir luden ab, den Leiterwagen stellten wir zu den vielen anderen, die da schon „parkten“, und gingen zum Bahnsteig Richtung Berlin. Da warteten etliche Fluchtwillige. Mit einem Mal kam eine Lok mit drei Viehwagen, leer, wir durften einsteigen. Mutter zum Vater: „Komm doch mit!“ Vater: „Kann ich nicht, ich bin vereidigt!“ Mutter: „Ihr Volksstürmer ohne Uniform seid für die Russen Partisanen, die hängen euch auf!“ Vater: „Wenn ich mitfahre, hängen mich die Deutschen und du würdest durch ein NS-Standgericht in Sippenhaft genommen“! So nahmen wir Abschied. Lokführer: „Ich bin der Letzte, es ist keine Maschine mehr da!“ Als es dunkel war, durfte er um 17.30 Uhr über die noch intakten Brücken, ohne dass wir beschossen wurden, bis zum Bahnhof Kietz, auf ein Abstellgleis. Dann kamen zwei Männer in deutschen Uniformen und fragten in akzentfreiem Deutsch: „Habt ihr genug Stroh?“ „Ja, danke!“ Sie machten sich wieder davon. Da kam eine Wehrmachtshelferin angerannt. „Alle raus, die Männer eben haben unter eurem Waggon hantiert, ich sah das, die haben da eine Sprengladung montiert.“ Wir raus, die Ladung wurde entschärft, wir wieder rein. Unsere Waggons wurden an einen Güterzug – wohl in Kietz geleerte Truppentransportwagen – angekoppelt und spät in der Nacht zum 3.2. verließen wir Küstrin. An jenem 3.2. war der größte Luftangriff, den Berlin erlitt. Dem entgingen wir, für die ca. 80 km bis Strausberg brauchte der Zug die Zeit bis 4.2. früh, wir mussten wohl an jedem Signal halten. Die Strecke war damals zweigleisig und gegenüber fuhren dauernd Militärzüge gen Osten. Tieffliegerbeschuss gab es nicht, die Russen hatten keine Flugzeuge dafür und die Angloamerikaner wollten ihnen wohl nicht helfen. Überhaupt, überlegte ich da im Zug, laut Wehrmachtsbericht bombardieren nachts die Engländer, bei Tage die Amis jetzt von Flughäfen in Frankreich täglich deutsche Städte in Nord-, West-, Süd-, Mitteldeutschland, Berlin, aber den Osten lassen sie in Ruhe, bis auf einmal Königsberg. Drei „fliegende Festungen“ hätten doch Küstrin plattgemacht, dann wäre doch der Russe vorgestern ohne Verluste in Küstrin gewesen. Aber seine Infrastruktur, der Nachschub, klappte nicht, und so erlebte ich am 31.1. nur (!) die schnelle russische Panzerspitze! Am 4.2., einem Sonntag, früh um 5.00 Uhr erreichten wir Strausberg. „Alle aussteigen!“ Und nun? Mutter sagt, sie habe mit Vater Adressen im Westen notiert, sie will mit mir zu ihrer Tante nach Dresden. Die S-Bahn fuhr bis Friedrichsfelde, weiter ging‘s wegen des Bombardements vom Vortag nicht. Mutig zogen wir beide mit unserem Gepäck Richtung Berlin-Zentrum, wir wollten zu einem Bahnhof mit Fernzugverkehr. Ich sehe noch vor mir, wie das Bett, das Mutter schleppte, sie am Laufen behinderte, sie trug es rücklings vom Hals bis auf die Kniekehlen. Da kam ein Pole („Freigänger“?) und half uns tragen. Er wollte kein Geld – das hatten wir, aber ein „Fremdarbeiter“ konnte ja damit nichts machen, durfte es gar nicht haben. Er wollte was Essbares, und das hatten wir nicht, konnten ihm auf Marken auch nichts kaufen, denn links und rechts der Straße brannten die Häuser immer noch in der „Frankfurter Allee“, kein Laden zu sehen. Nach zwei Stunden Fußmarsch, inzwischen war’s Vormittag, sahen wir fahrende S-Bahnzüge am Bahnhof Frankfurter Allee. Wir stiegen ein. Der Reichsbahnfernverkehr lag noch brach. Mutter überlegte: „Ich habe mit Vater auch eine Adresse in Potsdam ausgetauscht, da ist Tante Martel (Vaters Schwester) aus Frankfurt hinevakuiert.“ Sehr umständlich und nach vielem Umsteigen kamen wir tatsächlich noch am 4. Februar in Potsdam an. Bei der Tante, beengt in einem Zimmer, ist kein Platz. Wir kommen ins Auffanglager Obelisk. Am Montag, 5.2., werden wir einquartiert bei Generalveterinär a.D. Ventzki, ein Zimmer mit Küchen- und Badbenutzung in „Neue Königsstraße 16, erster Stock“. Der Mann hatte vom Krieg nichts mitbekommen, Potsdam war noch unzerstört, der Luftangriff kam, als wir nicht mehr da waren, wohl Ende März. Ventzki ging jeden Sonntag in eine Gaststätte Mittagessen, natürlich auf Marken, und zur Mutter sagte er: „Sie müssen Ihren Sohn in der Schule anmelden!“ Sie: „Den Teufel werde ich tun, mein Sohn und ich, wir trennen uns nicht mehr:“ Bei Alarm gingen wir in einen Bunker, wir spazierten zur Glienicker Brücke, fuhren zu Verwandten nach Stahnsdorf und Kleinmachnow. Am Bahnhof trafen wir einen Arzt aus Küstrin, der mich als Kind behandelt hatte – später erfuhren wir, der würde noch wegen Fahnenflucht von den sogenannten „Kettenhunden“, also von der Feldgendarmie, gemordet. Wir besuchten auch aus Ostpreußen geflohene Verwandte, die im Filmstudio Babelsberg untergekommen waren. Mutter wollte weiter weg zum Westen und korrespondierte fleißig, u.a. mit Apotheker West. Der Glückspilz, angestellt in der Apotheke Küstrin Landsberger Straße, hatte zum 1.1.1945 die Apotheke Clausthal im Oberharz gepachtet: ich sehe noch den Möbelwagen auf dem Neumarkt in Küstrin stehen, noch Mitte Januar. Dann war er weg, er ist unbeschädigt nach Clausthal gekommen im Güterzug, und so haben Wests ihren gesamten Hausrat gerettet. Wir sollten ja bald nach Clausthal kommen.

Am 19.2. wurde Küstrin-Neustadt von der Zivilbevölkerung geräumt und mein Vater schrieb: „Mein Pelzmantel im Keller ist gestohlen. Ich schicke meine goldene Taschenuhr mit diesem Feldpostbrief“. Der Brief kam wirklich an. Am Dienstag, dem 6. März kam ein Kurier mit Motorrad zu uns: „Ich fahre täglich von Küstrin zum Führerhauptquartier. Heute bringe ich Ihnen Grüße von Ihrem Mann. Er lebt!“ An diesem 6.3. telegrafierte Mutter mit Clausthal. Mutter sagte zu mir: „Vielleicht haben wir Glück und kommen hin. Mit Dresden hat es ja nicht geklappt, gottlob, denn ich habe erfahren, dass die Tante beim Luftangriff (am 13.2.vormittags) zu Tode gekommen ist – da wären wir beide auch draufgegangen!“ Am Sonnabend früh (10.3.) fuhren wir mit Fahrkarte im fahrplanmäßigen Zug von Potsdam nach Goslar ohne Tieffliegerbeschuss. In Halberstadt brannte der Bahnhof, da waren gerade Bomben gefallen. Umsteigen in Goslar, die Lok vom Anschlusszug ins 600m hohe Clausthal schaffte es nur bis Wildemann, wir mussten vielleicht 8km vorm Ziel mit unseren Habseligkeiten bei strömendem Regen auf eiskaltem Bahnsteig warten. Tante Martel hatten wir mitgenommen, und die jammerte immerfort „Ach hoi, ach hoi!“ Endlich kam eine Ersatzlok, und als wir Clausthal erreichten, gab‘s Fliegeralarm. Es war inzwischen später Abend, und wir trauten uns nicht mehr zu Wests, schliefen in einem NSV-Heim. Tante sagte noch: „Hier gibt es bestimmt Läuse.“ Nächster Tag: Sonntag: Begrüßungslikör bei West, der Apotheker hatte ja Alkohol und passende Ingredienzien!

Wir schliefen im Dachgeschoss. Da stand eine Tischtennisplatte, ich zeigte Sohn Gerhard meine Künste. Der war der einzige weit und breit, der einen Fußball besaß. Uns wurde ein Zimmer mit einem schrägen Dach bei Postinspektor Schmidt zugewiesen. Der sagte, Kurgäste hätten immer pro Nacht eine Mark pro Kopf gezahlt. Mutter: „Es ist Krieg, wir sind Flüchtlinge und zahlen Miete.“ Ich spielte mit Kindern aus der Nachbarschaft, die glaubten, ich käme aus Asien und brauche also nicht in die Schule zu gehen. Tatsache: Der Gymnasialdirektor nahm mich wegen Überfüllung der Quinta (Klasse 6) nicht auf. Bei den Kindern setzte ich mich rasch durch: „Ihr hier in der Bergakademie-Stadt habt ja noch nicht mal Kanalisation und nur Plumpsklos, wir in Asien hatten Badezimmer mit Toilette und Doppelfenster, die nach innen aufgingen. Ihr mit euren Holzhäusern und dem einen Fenster, das nach draußen aufgeht.“

Am 22.3. mittags sah ich von unserer Dachbude sozusagen am halben Horizont einen gewaltigen Rauchpilz. Hildesheim, sicher an die 50km entfernt, brannte nach einem verheerenden Luftangriff.

Mutter und ich wussten, der Krieg geht gleich zu Ende. Natürlich hatten wir kein Radio, aber West sagte uns am 30.3., laut Wehrmachtsbericht sei seit gestern die Festung Küstrin gefallen, also ganz in russischer Hand. O weh, was ist da bloß aus Vater geworden? Bange Tage!

Dann kam eine Karte aus Seelow von Vaters Cousine. Er hatte sie aufgesucht und sich bei ihr gewaschen. Aber wann? Wann durfte er noch raus aus Küstrin? Später, er sprach wenig und selten über jene Tage, erzählte er mir, er habe befehlsgemäß nachts über den Schlauch Kuhbrücke-Bleyen eine Gruppe ungarischer „Fremdarbeiter“ aus Küstrin rausgeführt, die sollten nun in Berlin wieder Panzersperren bauen. Wann war diese Rettung Vaters, und wer gab den Befehl? Es kann nur nach dem 10.3. – da hatte ja die Rote Armee gerade die Neustadt erobert - und vor dem russischen Schlauchdurchbruch am 22.3. gewesen sein.

Jahrzehnte später las ich, man hätte die ganz jungen und die ganz alten „Volksstürmer“ Mitte März rechtzeitig aus Küstrin rauskommandiert. Zum Volkssturm, den es seit 25.9.1944 gab, mussten alle Männer vom 16. bis zum 60. Lebensjahr, die nicht zum Militär gemusst hatten, und Vater war über 55½. Viele seiner Bekannten kamen beim Volkssturm in Küstrin ums Leben. Er hatte noch in Küstrin erfahren, wo wir ab 10.3. steckten, und was für ein Jubel, am 5.4. kriegten wir drei Briefe von ihm aus Briesen, dort war er jetzt stationiert, wir telegrafierten und schrieben sofort hin, und am 7.4. kam noch ein Brief von ihm, geschrieben am 2.4. Die Briefe sind leider alle verschollen, ich weiß absolut nichts von ihren Inhalten. Was er dort beim Volkssturm tat, durfte er uns wohl sowieso nicht mitteilen.

Dieser 7.4., ein Sonnabend, hatte es für mich erneut in sich. Ich stöberte ziellos in Clausthals Hauptstraße, der Adolf-Römer-Straße herum, da sah ich, ohne Alarm, 7 Flugzeuge am wolkenlosen Himmel, plötzlich löste sich eins aus dem Pulk, kam tiefer, ich, nun schon „erfahren“, rannte schutzsuchend an der Kirche vorbei, schmiss mich an die Rathauswand, es knallte, große Steinblöcke klatschten um mich herum auf die Erde, verwundeten Passanten. In der Parallelstraße, die auch noch „Sorge“ heißt, hatte eine Luftmine sieben Häuschen weggerissen. Da standen deutsche Wehrmacht-LKW. Auf ihrer „Flucht“ von West nach Ost (!) fuhren die immer nachts und stellten sich bei Tage in den kleinen Städten wie Clausthal unter. Dabei trieben sie Schindluder mit dem Roten Kreuz, sie bemalten ihre Autos damit. Ich lief heim, wieder kam mir Mutter entgegen gerannt. Die folgenden Tage mussten wir tagsüber im Wald Richtung Torfhaus verbringen, gottlob war der Frühling im rauen Oberharz angekommen, und nachts mussten wir in einen längst stillgelegten Bergwerksschacht, der sehr feucht war. Am 8.4. ging noch mal Post an Vater ab, spätabends kaufte ich markenfrei frische Butter bei „Askania“. Der Feind musste also sehr bald da sein.

Am 13.4. war’s so weit. Wir mussten morgens in dem Schacht bleiben. Dann durften wir raus. Da stand ein schwerbewaffneter GI, ein baumlanger Schwarzer. Ich, nazigeschult, kriegte Angst – aber er fraß mich nicht. In unserer Kemenate angekommen, war unser bisschen Hab und Gut total durcheinandergewirbelt! Der blöde Schmidt hatte seine Hakenkreuzfahne unter unserem Bett versteckt, das wusste ich nicht, und die Amis hatten sie da entdeckt. Am nächsten Abend tobte das erste Frühlingsgewitter über dem Harz, und zugleich beschoss die letzte deutsche Artillerie von Richtung Brocken her auf Clausthal. Wir blieben unterm Dach. Und wir wetteten: „Blitz und Donner oder Granaten-Einschlag?“ Leichtsinniger Übermut, aber wir feierten so unser Kriegsende. Und auf dem Brocken brannte das Hotel ab.

Frieden! Wir zogen weg von Schmidt ins Parterre zu Frau Thiele. Sohn, großer Sportler, gefallen. Mit ihr gingen wir Meilen zu Bauern im Flachland „hamstern“, immer zu Fuß, manchmal erfolgreich, denn im Harz wächst ja nichts. Wir klauten Holz zum Kochen und Heizen, im Wald sammelten wir Pilze und Beeren. Am Bruchberg stand noch der ausgebrannte Bus vom Gauleiter Lauterbacher aus Hannover. Die Evakuierten aus Köln und das Bismarck-Gymnasium aus Hannover kehrten von Clausthal in ihre Heimat zurück, und im Herbst wurde ich endlich am Clausthaler Gymnasium aufgenommen, in Klasse 6. Das Jahr Schulabstinenz wurde mir und vielen anderen nicht „vergütet“…

Als ich, wohl so Mitte November, aus der Schule komme, sehe ich meinen Vater die Straße entlangkommen: wir fallen uns in die Arme und dann rasch zur Mutter.

Briefkontakt mit Vater hatten wir irgendwann nach der Kapitulation wieder, er lebte und wusste, wo wir nach dem 10. März gestrandet, gelandet waren. Wir kriegten mit, dass er im mecklenburgischen Parchim als Totengräber tätig war. Dann kam der Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht: „Jeder geht da wieder hin, wo er mal hergekommen ist!“ Als Vater nach Küstrin kam, machte ihn der kommunistische Bürgermeister sogleich zum Lehrer. Also waren auch Heimkehrer mit Kindern gekommen. Alle vegetierten ausschließlich in der Neustadt, überwiegend in den Ruinen der Weinbergstraße. Dann ernannte ihn der Bürgermeister zum Kämmerer – welch ein Treppenwitz! Woher sollte denn Geld in die Stadtkasse kommen? Die Frage erübrigte sich ohnehin rasch, denn die nunmehr polnische Verwaltung verfügte die Ausweisung aller Deutschen. Ich meine, das war der 24. Juni. Handgepäck durfte mitgenommen werden, mehr nicht, und der mit dem Pferdegespann der Brauerei Graul-Tamm zurückgekehrte Kutscher Zärtner musste ohne Pferde abhauen. Er hatte am 30. Januar die Order, sich mit Tamms Angehörigen und Angestellten in die Flüchtlingstrecks einzureihen. Vater wollte zu uns, kam bis Ilsenburg an den Ostharz, versuchte etliche Male vergeblich, schwarz über die „grüne Grenze“ in die britische Zone nach Clausthal zu gelangen. Nun, so spät im Jahr, hatte er es endlich geschafft. Mutter arbeitete beim Engländer in der Nähstube und schneiderte ihrem Paul erst mal einen Mantel aus alliiertem Tarnstoff. Hatte sie für mich auch schon fabriziert. Mit dem bei den Engländern verdienten Geld kaufte sie auf dem Schwarzen Markt ein Dürkopp-Fahrrad (im Sommer lebensnotwendig für den Schulweg) und Skier – das glaubt man nicht: aus Birnenholz! – für den Schulweg im Winter.

Mein Vater wurde sofort „Büroleiter“ bei dem hilfsbereiten Apotheker West. Beide Eltern wurden lebensbedrohend von infektiöser Gelbsucht befallen. Nie werde ich vergessen, wer da meinen Hunger stillte. Im Zimmer neben uns – die dort einquartierte Frau aus Hannover war mit ihren zwei Buben heimgekehrt – logierte jetzt der polnische Ex-Zwangsarbeiter Harder mit seiner Freundin Berta, beide nun „displaced persons“. Im Wald bei Clausthal bauten die Nazis eine Munitionsfabrik mit Lager für die Zwangsarbeiter. Die zogen nun in die freigewordenen Räume in der Stadt, bis sie in ihre Heimatländer repatriiert wurden, wenn sie das wollten. Harders und unser Zimmer waren durch eine verschlossene Tür getrennt, auf unserer Seite stand ein Schrank, bis zur halben Höhe der Tür. Jeden Abend öffnete Berta die Tür und stellte einen Teller mit Wurstbroten auf die Schrankdecke, für uns Deutsche, eigentlich ihre Feinde, die ihr so viel Leid angetan hatten. Abends ging ich über den Flur zum Harder nach nebenan, er spielte Mundharmonika und Berta sang auch deutsche Volkslieder. Ich besorgte mir irgendwoher auch eine C-Dur-Mundorgel und las die Melodien von Harders Lippen ab, jedoch spiegelverkehrt, ich saß ihm ja gegenüber! Ich fügte mich rasch melodisch ein, wir bildeten ein harmonisches Trio ohne Notenbuch. Kann außer mir noch jemand in Deutschland Mundharmonika verkehrt herum blasen? Es waren dennoch fünf harte Hungerjahre, die wir noch in Clausthal durchhalten mussten.

Da für mich 1948 vor der Währungsreform kein Konfirmationsanzug zu besorgen war, freute ich mich, denn ein Jahr später geriet ich an einen prächtigen Pfarrer, den ich nach der Einsegnung duzen durfte. Vater bekam dank Protektion durch den ehemaligen Chef der Küstriner Volksbank 60jährig noch eine Anstellung in seinem Beruf, in Heidelberg. Dort war 1950 immer noch große Wohnungsnot, er holte uns nach, wieder nur ein Zimmer, aber mit Balkon. Vermieterin war die erst Putze, dann Ehefrau des ersten Generalbundesanwalts Güde, 1950 schon Witwe. In einem Zimmer lebte ein stud. jur., der sang wie Rudi Schuricke und besuchte oft eine ledige Mutter in einem anderen Zimmer. Wieder in einem anderen Zimmer wohnte eine Ex-Gewandmeisterin aus Wien mit Hund und Sohn, Barmixer bei den Amis. Zu der Frau ging ich immer abends, sie brachte mir viele Patience-Spiele bei, ich belehrte meine Eltern damit. Wie es bei 5 unterschiedlich strukturierten Wohnparteien in der Küche zuging und aussah, will ich lieber nicht beschreiben. Baden ging bei Einwurf eines 50-Pfennig-Stücks in den Gasofen. Ein wildes Leben, für mich eine köstliche Ablenkung von den Pflichten des Schulalltags. Ich machte dort das Abitur, und bei Beginn des Studiums, das war dann 1953, bezogen wir endlich eine schöne Wohnung. Wie einst in Küstrin bis Januar 1945…

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Erna und Matthias Stenzel 1976 in Höhe Warnicker Straße 10-13; im Hintergrund Neubau der kath. Kirche