Ein Blick ins E-Mail-Postfach der MOZ reicht:

"kanacken laßt euch ja nich blicken ihr scheiß kanacken , seelow ist und bleibt kanacken frei !!!!!!"

hieß es gestern Abend.

Diese und ähnliche Kommentare erreichen die Seelower MOZ-Redaktion  seit Wochen. Täglich mehrfach und nicht einmal mehr anonym.  Häufig sind es junge Erwachsene.  Sie mokieren sich darüber, dass hier Menschen  in der Not geholfen wird, dass sie die Hartz IV Almosen bekommen wie sie selbst  , so weit sie selbst keine Arbeit haben. Haben sie Angst, zu kurz zu kommen? Was ist da schief gelaufen? Was läuft da schief ?

Heute  wird hier Rudi Vogt für seine Verdienste um seine Heimatstadt ausgezeichnet. Einer, der fast auf den Tag  genau vor 61 Jahren aus dem Schuldienst in der DDR entfernt wurde, weil er dieses Mal nicht im Namen einer Ideologie missbraucht werden wollte. Nicht noch einmal.

Nicht so wie in seiner Heimatstadt Küstrin, in der er vor 89 Jahren  als eines von sieben Kindern eines kleinen Beamten geboren wird. Als er zu spüren bekommt, was es bedeutet, auf Grund von sozialen Schranken nicht zum Gymnasium zu können, weil der Vater das Schulgeld nicht bezahlen kann. Denn dass Rudi Vogt durchaus das Zeug dazu hat, das zeigt sich schon daran, dass er mit Fünf eingeschult wird und stets Klassenbester ist. Aber der Klassenlehrer, ein strammer SA-Mann, macht dem Jungen die Hoffnung, als Herrenmensch auftreten und auf andere herabblicken zu können. Zunächst schon mal auf polnische Zwangsarbeiter. 

„Ich bin erst spät aufgewacht“, hat Rudi Vogt voriges Jahr in einem Brief an die MOZ geschrieben. Er berichtete davon, wie er ideologisch auf den Krieg vorbereitet worden war. Er hatte die „Jungvolk“ oder „Pimpfe“ genannten Hitler-Jungen unter 
14 Jahren in dem Heim im Kietzer Tor der Küstriner Altstadt ausgebildet. „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg“ zitierte er aus einem Lied, das er begeistert gesungen habe, als Europa unter dem Joch des Faschismus litt. „Der Größenwahn wurde schon 1942 im Stalingrad gestoppt, war aber bei den Kämpfen im Frühjahr 1945 am Kietzer Tor noch nicht beendet“, schrieb er. Noch am 18. Oktober 1942, Vogt ist 16 und beginnt eine Sparkassenlehre, hatte Goebbels in seiner bekannten „Fettnapfrede“ deutlich gemacht, worum es geht: „Wir wollen uns endlich mal als Volk an den Fettnapf der Welt setzen. Es geht um Kohle, Eisen, Öl und vor allem Weizen.“

„Ich bin erst wach geworden, nachdem ich in Heide/Holstein mit Gewehrkolbenstößen der Tommis ins Kino getrieben wurde und dort die ersten KZ-Filme sah“, beschreibt Vogt den Grad der Verblendung. Weder aus den Medien, die der Kriegspropaganda verpflichtet waren, noch von den Lehrern, meist NSDAP-Mitglieder, gibt es Aufklärung. „Mein Vater war zwar nicht Mitglied dieser Partei, hat aber zu uns Kindern kein aufklärendes Wort gefunden. Im Ersten Weltkrieg war er schwer verwundet worden, als Artillerist hatte er in der Altstädter Kaserne gedient.“

Kritisch setzt er sich heute mit den Parolen auseinander, die ihn in seiner Jugend kriegsreif gemacht hatten: Dazu gehörten die vom „Deutschen als Volk ohne Raum“ tönen. Als Lehrer sei er dann erschüttert darüber gewesen, dass es auch in der DDR wieder Panzer und Kanone als Spielzeug gab. Rudi Vogt warnt eindringlich vor den Bestrebungen von rechts, die Jugend zu verführen. „Wir müssen uns hüten, Vergesslichkeit an den Tag zu legen“, mahnt er.

Der Titel „Wider das Vergessen“ seines kleinen Erinnerungsbüchleins zum DDR-Alltag könnte auch als sein Nachkriegsmotto verstanden werden. Sich nicht mehr vereinnahmen, täusche zu lassen, sich nicht mehr angstvoll anzupassen – dieser Wille spricht aus vielen Erlebnissen, die er aufgeschrieben hat. Ob dazu auch das Ausrasten im Kaufhaus gehören muss, wenn ein Ventil mal nicht zu bekommen ist, mag dahin gestellt bleiben. Wichtiger war die Erkenntnis, die der Dramatiker Heiner Müller einmal mit dem Wort umschrieben hat: „Die Dinge sind nicht so, wie sie bleiben“:

Nein. Dieses Kietz war nicht das Ende der Welt. Nein, die deutsche Teilung konnte nicht ewig durch die Familien gehen. Und nein, das ist nicht der Staat der kleinen Leute. Rudi Vogt riskiert dabei viel, bringt Mut auf, wo andere einknicken. Behält seine Freunde und Kameraden, auch und vor allem die im Westen. 

Nach der Wende, im Mai vor 25 Jahren, wird Rudi Vogt in die Kietzer Gemeindevertretung gewählt. Eine Genugtuung für ihn, den sie immer wieder ins soziale Abseits drängen wollten.  1990 sei die Euphorie noch groß gewesen, dass dem Namen der alten Festungsstadt Küstrin, zu der auch die westlich der Oder gelegenen Ortsteile gehörten, zu neuem Glanze verholfen werden könnte, wird er 20 Jahre später erklären. Seit der zwangsweisen Umbenennung in Friedensfelde bzw. in Kietz 1954 war der Name bis zur Wende tabu. „Wir haben damals als neue Gemeindevertreter aber einen Fehler gemacht. Wir hätten keine Umfrage zur Umbenennung machen sollen. Die Abstimmung in der Bevölkerung sei 1990 ernüchternd gewesen, erinnert sich der Zeitzeuge. 150 Kietzer hatten sich für „Küstrin-Kietz“ entschieden, 50 für „Küstrin“, und 50 für „Kietz“. Auch spätere Versuche des von Rudi Vogt 1994 mitbegründeten Vereins für die Geschichte Küstrins, der Gemeinde den Stadtnamen ohne Zusätze zu geben, scheiterten.

Es folgte die Ernüchterung, die mitunter auch in Verbitterung umschlagen wollte. Nein, die Küstrin-Kietzer haben sich nicht mit Feuereifer auf die Rückgewinnung ihre Stadtgeschichte gestürzt, keine neue Souveränität und Selbstbewusstsein als Küstriner entdeckt. Hauptursache für die relative Gleichgültigkeit gegenüber der Ortsgeschichte war der Umstand, dass die meisten Küstriner nach der Zerstörung ihrer Stadt nicht mehr heimgekehrt waren. Angesiedelt wurden vielmehr Eisenbahner und anderes Fachpersonal, das den strategisch wichtigen Grenzbahnhof zu bewirtschaften hatte. Mitunter waren auch die in dem Ort verbliebenen Altküstriner bis aufs Messer zerstritten.

Aber der Weg ist nicht zu Ende. Die ihn weitergehen, haben mit den Erinnerungsbüchern und Schriften Rudi Vogts Mutmacher an der Hand, Positionsleuchten des einstigen Seekadetten, die davor warnen, sich mit einer falschen, rassistischen oder dünkelhaften Sache gemein zu machen.

Und dann zu blöken: Kanacken raus hier, das Boot ist voll.

 

Dr. Ulf Grieger                        Küstrin, 26. September 2015